Die Universität ist eine vom Staat geschaffene Institution. Ihr Zweck war die Reflexion der menschlichen Lebensverhältnisse. Diese Aufgabe haben zuvor die religiösen Institutionen wahrgenommen, mit dem Unterschied jedoch, dass sich ihr Vermögen zur Reflexion der Lebenszusammenhänge mit den jeweiligen Herrschaftsinteressen massiv vermengte und in der Regel von ihnen überformt wurde. Davon hat sich die Universität, als Kind der im Mittelalter beginnenden europäischen Aufklärung, partiell emanzipiert. Sie war eine säkulare Kirche, die einzige ernstzunehmende Alternative zur christlichen, die es gegeben hat. Wie die Kirche aber, die als Institution seit langem nicht mehr hält, was sie einmal versprochen hatte, befindet sich ihr säkulares Gegenstück in schleichender Auflösung. Jetzt ist sie nur noch eine leere Hülse, ein bewusstloses Exerzitium von Riten, aus denen der Geist ausgezogen ist. Jetzt verkörpert sie: Herrschaft ohne Reflexion. So ist sie noch hinter das, was die religiösen Institutionen einmal waren, zurückgefallen. Der lebendige Körper des Geistes ist tot; was geblieben ist, ist der Vollzug der bürokratischen Maschinerie.
Aber der Geist lebt weiter, auch wenn er die Institution verlassen hat, der es gelang, ihn für einige hundert Jahre partiell an sich zu binden. So stellt sich die Frage: Wo ist das, was die Universität einmal war, heute zu suchen?
Die unsichtbare Universität hat es schon immer gegeben; was nottut, ist ihre Anerkennung; das Bewusstsein, dass die Universität heute vor allem nichtinstitutioneller Natur ist. Die unsichtbare Universität bewegt sich quer durch die gesellschaftliche Wirklichkeit, wird hier und dort für kurze Zeit verkörpert, um alsbald wieder zu verschwinden. Sie kann in Zeitungsredaktionen ebenso entstehen wie im Theater oder in Filmprojekten, im Internet ebenso wie in öffentlichen Diskussionen, in einer Psychotherapie ebenso wie in der Forschungsabteilung eines Unternehmens. Sie ist überall dort zu Hause, wo sich die Leidenschaft für die Sache mit der Fähigkeit, sich selbst als bedürftiges und begehrendes Wesen zu reflektieren, paart. Überall dort ist von ihr zu reden, wo Menschen ihre Erfahrungen zu einem kollektiven Körper zusammenfügen, wo KOLLEKTIVE INTELLIGENZ entsteht. Die einzige Voraussetzung dafür ist, dass sie in dem Versuch miteinander reden, den Riss, der unser Dasein bestimmt (Riss zwischen »Oben« und »Unten«, »Himmel« und »Erde«, »Rationalität« und »Gefühl«, »Bewusstsein« und »Unbewusstem« …), zu verringern: spontan, unreglementiert, ergebnisoffen.
Warum ist das Gespräch, die mündliche, spontane Rede, so wichtig? Warum ist es das Medium, in dem das, was die Universität einmal war, unsichtbar geworden, überlebt? Im Gespräch treffen zwei Dinge zusammen, durch die der Geist lebendig wird: Kollektiv und Körper. Die Stimmen, die hier zusammentreffen, sich überkreuzen, sich vereinigen, einander ins Wort fallen und mit dem Echo der anderen Stimmen in eine bedeutungshafte Konstellation eintreten, die nur für diesen Moment existiert, sind die vergeistigten Körper der Redenden. Das ganz Individuelle des Körperklangs verbindet sich in ihnen mit dem Allgemeinen der Sprache. Hier kann ein Allgemeines entstehen, welches das Individuelle nicht wegschlägt, sondern es freigibt. Erfahrung und Begriff treten zusammen und manchmal entsteht dabei eine kollektive geistige Erfahrung. Das sind die Reflexionsfiguren, in denen eine Gesellschaft sich so erkennen kann, dass sie sich erkennend verändert (↑ Austauschbarkeit).
Solche Erfahrungen kann man noch immer an der Universität machen. Aber sie sind die Ausnahme. In der Regel haben sie kein institutionelles Zuhause. Die unsichtbare Universität kennt keinen festen Ort, keine Hierarchie, keine Studienordnung und keine Berufungsverhandlungen mehr. Und in der Regel ist sie chronisch unterfinanziert. Als Utopie der Universität ist sie zugleich mehr und weniger als diese. Sie ist weniger, weil sie keine unmittelbare gesellschaftliche Macht besitzt. Wenn sie wirkt, dann subkutan. Sie ist aber mehr, weil in ihr das Uneingelöste auch der realexistierenden Universität der letzten Jahrhunderte (die immer auch Betrieb und Herrschaftsinstrument war) unverstellt zutage tritt.
»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.
Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.