Ähnlich paradigmatisch wie seit den Bologna-Reformen wurde im 19. Jahrhundert über den Sinn und Zweck von Bildung gestritten: Die Philantropisten kämpften gegen das neuhumanistische Bildungsideal und für eine an den Realien, sprich den Naturwissenschaften, orientierte Bildung. Erziehung sollte nicht mehr am Studium des Altertums sowie der griechischen und lateinischen Sprache, sondern an der Gegenwart und ihren Anforderungen ausgerichtet sein. Die Bezeichnung »Realschule« ist also im Gegensatz zum »Gymnasium« ganz buchstäblich zu nehmen.
Auch wenn der in die Auseinandersetzungen verwickelte Philosoph und Theologe Friedrich Immanuel Philipp Niethammer ein Neuhumanist war, formulierte er das Projekt seiner Gegner durchaus in deren eigenem Sinn: Nach diesen gälte es, »für alles zu sorgen, was dem Lehrling im späteren Leben zu seinem Berufe in dieser Welt und zu einem glücklichen Fortkommen in derselben behülflich und in Zeiten des Dranges und der Noth zu wissen unentbehrlich seyn dürfte.«1 (↑ Employability) Dieser Anspruch auf Verwertbarkeit von Wissen hat einen der Hauptvertreter des Philantropismus und ersten deutschen Lehrstuhlinhaber für Pädagogik, Ernst Christian Trapp, in letzter Konsequenz zur Forderung nach der Abschaffung von Universitäten als unbedingte Bildungsinstitutionen gebracht. Die Antwort auf die Frage, was der Zweck der Universität sei, lautet bei ihm: »Doch kein anderer, als die Anfangsgründe jener Wissenschaft zu lehren, die jungen Leute so weit zu bringen, daß sie nachher mit Nutzen für sich weiter studieren, und dann noch, daß sie das Erlernte in Anwendung bringen können.«2
Die polemischen Angriffe der Neuhumanisten gegen die philantropistischen Erziehungsideale prophezeiten als deren Folge die Vertierung der Schüler und Studenten. Niethammer führt in seinem Buch Der Streit des Philantropinismus und Humanismus aus, dass die zwei Seiten des Menschen, die geistige und die animalische, untrennbar miteinander verbunden seien. Da das Geistige aber das Höhere im Menschen ausmache, müsse dieses dem Animalischen vorgezogen werden. Ansonsten hätte man eher mit dem »Thierreiche« zu tun und nicht mit der Bildung von Menschen, wie es Ernst August Evers in seinem programmatischen Titel Über die Schulbildung zur Bestialität: eine Streitschrift zugunsten der humanistischen Bildung3 auf den Punkt gebracht hat.
Das Heilsversprechen der Philantropisten stimmt in vielen Punkten mit dem der Bologna-Reformer überein, so unterschiedlich ihre Motivationen auch gewesen sein mögen. Das Studium soll von den zukünftigen Aufgaben im Berufsleben bestimmt sein: Bildung wird als Ausbildung verstanden. Hatte dieser Gedanken im 19. Jahrhundert zur Folge, intellektuelle Kräfte von festgesetzten Bindungen zu lösen und Bildung für alle sinnvoll zu machen, so ist der Effekt der gleichen Idee im Zuge der Bologna-Reform ein ganz anderer, denn vom Katechismus und der Antike braucht heutzutage wohl kaum noch ein Student befreit zu werden. Das Programm der Bildung als Ausbildung hat vielmehr dazu geführt, Studenten in der Gestaltung ihres Studiums einzuengen und – um im Bild des »Thierreiches« zu bleiben – zu zähmen. Ein derartig restringierender und kontrollierender Umgang scheint auch auf das Vokabular der
Bologna-Reformer und in der Umsetzung ihrer Reformen auf einen großen Teil des universitären Sprechens insgesamt übergegriffen zu haben.
So versucht das ↑ Bologna-Glossar nicht nur, neue Begriffe in den universitären Diskurs einzuführen, sondern auch bereits bestehende in Zaum zu halten: Wo und auf welche Weise sie losgelassen werden dürfen, soll ganz genau vorbestimmt sein. Um mögliche Bedeutungsverschiebungen zu verhindern, werden Begriffsdefinitionen der universitären Praxis entzogen und externen Institutionen übergeben. Sie verwandeln sich somit in fremde Wörter, in Glossen.
Aristoteles definiert die Glosse als ein Wort, das von den anderen verwendet wird und bei Quintilian ist sie ein wenig gebräuchliches Wort. In jedem Fall sind Glossen nicht unmittelbar verständlich, da sie aus fremden Lebenszusammenhängen stammen. Sie bedürfen einer Kommentierung, um nicht als blinde Flecken in der Rede zu verwirren und auf gefährliche Irrwege zu führen. Das Glossar erklärt fremde Wörter und erläutert deren jeweilige Anwendung in der Hoffnung, sie auf diese Weise in den Griff zu bekommen, sie in die eigene Sprache zu integrieren und in eine bloße, nicht weiter störende, weil gezähmte Spur der anderen Sprache zu verwandeln. Die fremden Wörter scheinen im Bologna-Glossar allerdings gerade aufgrund ihrer Fremdheit, die ins Eigene ein für alle mal übersetzt und damit definiert, kontrolliert, gezähmt und bewacht wird, gesichert werden zu können. Dieser Sprechpraxis sollen in und mit diesem Buch andere widersprechen. Die im Bologna-Bestiarium noch häufig sichtbaren Gehege an Anführungszeichen, Kursivsetzungen und aus dem Englischen stammenden Kleinschreibungen einzelner Begriffe zeigen nicht nur an, dass es sich um fremde Wörter handelt, sondern auch um solche, deren Status noch ungesichert ist.4
Das Bologna-Bestiarium hat sich entgegen dem Bologna-Glossar zum Ziel gesetzt, die Wörter aus ihrer Zähmung zu befreien und in die Wildnis der diskursiven Praxis zu entlassen. Die durch die Zähmung zu Bestien gewordenen Wörter sollen durch eine Freisetzung ihre ursprüngliche Unbestimmbarkeit zurück erlangen. Dabei gilt es, zu fragen, was die Begriffe des Bologna-Vokabulars nun in der Tat und jenseits ihrer offizielle Bestimmung bedeuten, welchen Sinn sie in der universitären Praxis jeweils erhalten und ob sie überhaupt einen Sinn haben oder bloße, allerdings durchaus unheimliche Diskursgespenster sind.
Deshalb kann dieses Buch auch kein »Wörterbuch« oder »Lexikon« sein. Wörterbücher oder Lexika sind nicht einfach nur »das Wort betreffende«5 Bücher, sondern werden über mindestens noch zwei weitere Aspekte definiert: zum einen der Anwendbarkeit und zum anderen der Vollständigkeit eines Wissensbestandes. Sie erstellen einen Bildungskanon mit all seinen Ein- und Ausschließungen. Sie lassen Wissen erlern- und modularisierbar werden und können auf diese Weise das Lernen ökonomisieren. Im Sachwörterbuch der Literatur heißt es im Artikel zum Lexikon, es fasse »die Wissensgebiete in Kompendien zusammen und erspar[e] die Lektüre anderer Werke«.6
»Bestiarium« dagegen impliziert etwas ganz anderes. Es hat sich aus dem im zweiten Jahrhundert entstandenen Physiologus entwickelt, einer frühchristlichen Naturlehre, in der Steine, Pflanzen und Tiere allegorisch auf die christliche Heilsgeschichte hin ausgelegt werden. Die einzelnen Kapitel gliedern sich jeweils in drei Abschnitte: Zunächst wird ein Tier durch das Zitat eines Bibelverses vorgestellt, danach wird es nach der bestehenden Tierkunde erklärt, um schließlich in eine typologische Deutung zu münden.
Wie im alten Physiologus und in den daraus entstandenen Bestiarien wird in diesem »Bestiarium« meistens zuerst einmal festgestellt, woher die Wörter stammen und worin ihre Ursprungsbedeutung besteht. Jeder Artikel zielt aber letztendlich auf einen weitergefassten Deutungshorizont der Begriffe ab: Es geht darum, festzustellen, wie sie falsch verwendet werden, auf welche Weise sie aufhören, Fremdwörter zu sein, wie sie außer Kontrolle geraten … (↑ Lektürekurs) Diese Wort-Bestien werden hier meist gegen eine universitäre Heilslehre ausgelegt, die gesteigerte Effizienz des universitären Arbeitens, Anschlussfähigkeit an den ↑ Arbeitsmarkt, Wettbewerbsfähigkeit, Förderung welcher ↑ Elite auch immer, Mobilität (↑ Globalisierung), die Verringerung der Abbrecherquote und anderes verspricht. Bestiarium heißt also nicht nur, wilde Tiere an einem Ort zu versammeln, sondern sie frei zu lassen und einen Ort zu schaffen, an dem eine offene Auseinandersetzung mit ihnen stattfinden kann (↑ Vorlesung2).
Ganz offensichtlich stammt das Wort »Bestiarium« nicht aus dem Vokabular der Bologna-Reformer, noch dient es wie vor zweihundert Jahren in den aktuellen Diskussionen zu polemischen Zwecken. Warum also taucht es hier als Lemma auf? Ein sprechpolitischer Einschnitt (↑ Vorwort) beschränkt sich nicht auf die Neubewertung bereits bestehender Begriffe, sondern nimmt die Herausforderung an, neue Wörter einzuführen. »Bestiarium« soll einen Modus des Sprechens benennen, in dem aus der Praxis, aus einem ↑ Machen heraus hinterfragt wird, was mit der Sprache an der Universität seit den Bologna-Beschlüssen passiert. Im Gegensatz zu dem in dieser Hinsicht naiven »ECTS-Punkt« (↑ Leistungspunkte/ECTS) ist sich das »Bestiarium« dem Impetus seiner Setzung bewusst. Im Anschluss an die Philantropisten, die die Studenten aus dem Elfenbeinturm befreien und sie im Studium mit den Realien ihrer zukünftigen Lebenspraxis konfrontieren wollten, soll hier ein entsprechender Umgang mit zentralen Begriffen des universitären Diskurses vorgeschlagen und praktiziert werden. So will dieser Eintrag die Bedeutung seines Lemmas nicht einzäunen, sondern es als selbstgestiftetes Wort einer Auseinandersetzung ausliefern und es zwischen »Bestiarium« und Bestiarium hin und her bewegen.
1 Friedrich Immanuel Philipp Niethammer: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit, Werner Hillebrecht (Hg.), Weinheim 19682, S. 45.
2 Ernst Christian Trapp zitiert nach: Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts. Auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, Leipzig/ Berlin 1921, S. 63.
3 Ernst August Evers: Über die Schulbildung zur Bestialität: eine Streitschrift zugunsten der humanistischen Bildung, Aarau 1807.
4 Um den unterschiedlichen Grad an Fremdheit einzelner Wörter nicht zu unterschlagen, ist in diesem Buch zum Beispiel die Schreibweise von peer review uneinheitlich: Einmal wird es groß, einmal klein geschrieben.
5 Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 2001, S. 463.
6 Ebd., S. 216.
»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.
Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.