Ich fahre von München auf eine Tagung nach Münster. Aus München hängt mir eine Mail nach, die an alle Bologna-Koordinatorinnen und Koordinatoren unserer Fakultät ging: Wir haben dort kürzlich, wie jeden Monat, eine neue Version der Modularisierung für die einzuführenden BA-Studiengänge in der Geisteswissenschaft verfasst. Jetzt gibt es Schwierigkeiten mit Blick auf das benachbarte Lehramtsstudium, das auch bald reformiert werden soll: Die ↑ Module, Kurs- und Prüfungsdefinitionen sind dort aus verschiedenen Gründen nicht tauglich. Aber Module sollen flexibel in verschiedenen Studiengängen eingesetzt werden können: So können Germanisten in einer Einheit in Hermeneutik und Rhetorik eingeführt werden, ohne dass die Einheit unterscheidet, ob sie einen Bachelor oder eine Ausbildung zum Deutschlehrer anzielen. Die Studierenden haben sich bei der Einschreibung für das eine oder andere entschieden und kombinieren dieses gleichbleibende Modul entsprechend mit unterschiedlichen weiteren Angeboten: Flexibilität! Gerade das ist der zentrale Gedanke der Bologna-Reform.
Später sitze ich zum Abendessen mit den anderen Tagungsteilnehmern zusammen. Der Kollege aus Münster erzählt, wie viel Kopfschmerzen die Bologna-Reform in seinem Fach bereitet. Eines aber sei gut: Die völlige Trennung von Bachelor und späterem Lehramt. Das sei sehr sinnvoll: Die Studierenden müssen sich bei der Einschreibung nicht zwischen dem Fach- und dem Lehramtsstudium entscheiden. Erst wenn sie den BA abgelegt haben, wenn sie mehr Erfahrung mit sich und ihrem Fach gewonnen haben, differenzieren sie durch die Wahl des MAs, ob sie Deutschlehrer werden oder das allgemeine Germanistikstudium fortsetzen wollen. Gerade diese Trennung zwischen BA und MA ist ja der zentrale Gedanke der Bologna-Reform.
Bei ihr zuhause sei das ganz anders, wirft eine Kollegin von einer anderen deutschen Universität ein. Mit Bologna werden die Lehramtsstudiengänge überhaupt völlig anders konzipiert als die anderen Bachelors und Masters. Diese klarere Spezifikation einer bestimmten Berufsvorbereitung nämlich ist der zentrale Gedanke, den Europa bei der Einführung der Bologna-Reform verfolgt (↑ Employability). Ein Kollege aus Österreich hat nicht genau zugehört und nickt: Ja, sagt er, die fachbezogenen Prüfungen müssen identisch sein, egal, ob man Lehrer oder freier Germanist wird. Übrigens sei das leider noch nicht überall so umgesetzt, aber die Erkenntnis verbreite sich jetzt eh. Die Prüfung sei ja diejenige Ebene, auf der alle Studiengänge endlich international vergleichbar werden, darum gebe es dafür auch die ECTS-Punkte (↑ Leistungspunkte/ECTS): Genau diese Vergleichbarkeit macht ja die zentrale Idee der Bologna-Reform aus. Die Kollegin nickt erfreut zurück: Genau, wobei man allerdings nicht vergessen dürfe, dass die ECTS-Punkte sich natürlich nicht etwa auf die Prüfungen beziehen, sondern auf die vorausgehenden Kurse. Die Prüfung ergibt nur die Noten, die Kurse legen den Workload und damit die Punkte fest. Richtig, die ECTS-Punkte bestimmen den Workload, stimmen die Kolleginnen und Kollegen ein: Jeder Punkt steht für 25, nein 30, nein 20, nein: mindestens 30! … Stunden. Indem das einheitlich und verbindlich geregelt wird, sollen die Bologna-Studiengänge international vergleichbar werden; so der zentrale Gedanke der ganzen Reform (↑ Globalisierung).
Jeder ist sich seiner Sache sicher. Und unsicher. Denn jeder hat von seinem Koordinator irgendwann eine Rede gehört, in denen Worte wie der grundlegende Gedanke der ganzen Reform ist ja vorkamen, und die hat er sich gemerkt, auch weil er den Rest mit den Modulen und Prüfungsdefinitionen und ECTS-Punktsummen ohnehin nicht so ganz verstanden hat. Oder vielmehr meinte er eine Weile, auch dies verstanden zu haben, aber als er es im Fach erzählen wollte, hat es sich in seinem Kopf in baren Unsinn verwandelt. Das ist ein bisschen so wie mit der Quantenmechanik bei Nichtphysikern, und außerdem auch ein bisschen so wie mit der Quantenmechanik bei Physikern. Vielleicht ist er aber auch selbst Koordinator: Dann hat er denselben Satz von der Rechtsabteilung, dem Prüfungsamt, einer gemeinsamen Kommission oder einer Stabstelle der Hochschulleitung gehört. Der Satz wird von Koordinatoren oder zu Koordinatoren gesagt. Wo er gesprochen und gehört wird, geschieht Koordination. Unser Abendessen ist also eine Koordinatorenrunde, gerade weil man nicht weiß, wer von uns Koordinator ist und wer nicht. Diese Koordinatorentreffen wiederholen sich in diesen Jahren auf allen wissenschaftlichen Tagungen in Deutschland, und sie sind viel leichter wiederzuerkennen als die ECTS-Punkte verschiedener Universitäten. Jede und jeder versucht, den anderen das Prinzip zu erklären, und erzählt zugleich, wie es in der Umsetzung schiefgehe. Die Unschärferelation aus System und Frustration ist bei Koordinatoren immer ein bisschen so wie bei Nichtkoordinatoren: Man kann nie gleichzeitig mit gleicher Bestimmtheit sagen, was die Idee war und wie sie gerade scheitert. Die Konfusion zwischen Koordinatoren und Nichtkoordinatoren ist nämlich der zentrale usw.
Koordinatoren sind manchmal Wissenschaftler, die an der Hochschule forschen und lehren und nebenher diesen Teil der Administration im Zuge der sogenannten akademischen Selbstverwaltung (↑ Schalter) erledigen. Manchmal tun sie es auch nicht nebenher, sondern hauptberuflich: Dann haben sie eine Koordinatorenstelle, was alles von einer unbefristeten Verbeamtung bis zu semesterweisen Werkverträgen bedeuten kann. Manchmal sind die Koordinatoren auch keine Fachvertreter, sondern arbeiten in der Universitätsverwaltung. Dann werden sie regelmäßig beschuldigt, ohne Sachkenntnis die Details der Lehre regeln zu wollen – während die Kollegen sie ständig ermahnen, dem unsachlichen Gerede der Wissenschaftler nicht nachzugeben, weil die Verwaltung sonst nicht mehr bewältigt werden kann. Die Wissenschaftler unter den Koordinatoren hören dann genau diesen Vorwurf von ihren Ansprechpartnern in der Verwaltung, während die Kollegen im Fach ihnen ihren bürokratischen Ordnungswahn vorwerfen. Alle diese Vorwürfe geschehen stets zu Recht. Bisweilen gibt es neben den Bologna-Koordinatoren auch »Bologna-Beauftragte« oder »Studiengangskoordinatoren«, sodass sich die Verwirrung um Aufgaben und Kompetenzen im Fach noch beliebig oft wiederholen lässt. Auch in der Verwaltung, zwischen Prüfungsamt und Rechtsabteilung, zwischen der gemeinsamen Kommission der geisteswissenschaftlichen Fakultäten und der Hochschulleitung, aber auch zwischen dem Leiter einer Stabstelle und seinem Personal redupliziert sie sich weiter. Denn die Bologna-Koordination ist außerstande, Aufgaben der Verwaltung von inhaltlichen Fragen des Fachs zu trennen. Das macht sie vor allem anderen aus. Der Koordinator und die Koordinatorin sind Verkörperungen dieser Konfusion, Inkarnationen eines gespaltenen zentralen Gedankens, der sich nie einvernehmlich benennen lässt und gerade deshalb zweifach herrscht: Erstens herrscht er absolut und unwidersprochen: weil man zwar schon immer dagegen war, aber die Politik nun einmal entschieden hat, oder: weil dieser prinzipielle Gedanke ja an sich eine gute Sache sei, oder: weil diese allgemeine Regelung ja noch alle Freiheiten lasse. Und zweitens herrscht er bis ins kleinste Detail, denn jede noch so kleine Frage nach der richtigen Dauer einer halb- oder ganzstündigen Prüfung, nach dem Lektürepensum im Einführungskurs (↑ Lektürekurs), nach dem besten Umfang für Kontaktlehre im Fremdsprachenerwerb und nach der Entscheidung zwischen Readern und selbst anzuschaffenden Büchern wird jederzeit auf das Prinzip bezogen, weil zwischen Verwaltung und Wissenschaft, zwischen Koordination und Koordiniertem keine Unterscheidung mehr gelingt.
Hand aufs Herz: Koordinator war ich damals unter anderem auch, weil ich mir immerhin vorstellen kann, dass auch Bologna-Studiengänge gut und sinnvoll funktionieren können. Dann macht es Freude, sie zu gestalten. Ich habe das auch mehrmals erlebt, wage aber kaum mehr, dies laut zu sagen, weil ich damit immer Kolleginnen und Kollegen und auch mir selbst in den Rücken zu fallen fürchte, wenn wir in den vielen, vielen anderen Fällen gegen Windmühlen kämpfen, wo die reformierten Strukturen katastrophal und aberwitzig scheitern. Denn das tun sie in der Mehrzahl der Fälle. Wenn sie scheitern, davon bin ich überzeugt, liegt es nicht an irgendeinem Mangel des zentralen Gedankens der Reform, allein schon weil es einen solchen Gedanken nicht gibt.1 Aber: In der Umsetzung scheitern die neuen Studiengänge ständig, und das ist erklärungsbedürftig, zumal es alle mit der Koordination und rings um sie fast immer gut meinen. Was da scheitert, ist die Selbstorganisation unserer Universitäten; die Reform hat ihr nur Gelegenheit gegeben, zu zeigen, was sie nicht kann.
Die Koordinatoren sind also in einem unablässigen Scheitern begriffen, wir sind gescheitert, ich bin gescheitert: Warum eigentlich? Es gab doch auch früher Prüfungs- und Studienordnungen, Prüfungsämter, Lehrpläne, kurz, eine Verwaltung und Organisation. Es gab anstelle der ECTS-Punkte Semesterwochenstunden zur Zählung von Leistungen, anstelle der Transcripts gab es Scheine, anstelle der Modulhandbücher Studienverlaufspläne. Was ist denn überhaupt so grundsätzlich anders geworden? Ich weiß es immer noch nicht, aber vielleicht ist das immerhin eine Spur: Die Koordinatoren gab es damals nicht. Ich will wenigstens versuchen, einen Teil des Problems darüber zu begreifen: Dazu die folgende Spekulation, ein Vorschlag.
Können wir uns noch vorstellen, warum eine akademische Verwaltung ohne Koordinatoren möglich war? Als ich Student war, haben sie mir nicht gefehlt. Heute sind sie unverzichtbar, ob man sie nun im Fach oder in der Verwaltung oder überhaupt überall ansiedelt. Sie müssen ständige Nachfragen beantworten, und diese reichen bis ins kleinste Detail jeder anzurechnenden Prüfung, jedes inkompatiblen Seminars während eines Auslandsaufenthalts, jeder Differenzierung zwischen »Lernziel« und »Lerninhalt« in der Modulbeschreibung. Alle diese Beispiele sind übrigens echt. Über die von der Stabstelle geforderte Differenzierung von Lernziel und Lerninhalt etwa habe ich mir mit Kolleginnen und Kollegen in München lange den Kopf zerbrochen. Aber diese Terminologie war wohl schlicht ein abermaliger Versuch, im kleinsten Bereich die Division von Verwaltungsgesichtspunkt (Ziel – sic) und Wissenschaft (Inhalt) zu bewerkstelligen, die nicht mehr schlüssig funktionierte. »Bisher gingen wir davon aus, dass es Ziel sei, dass die Inhalte gelernt werden« – ein Zitat aus einer Antwort an die Stabstelle, das bei Koordinatorenrunden auf Tagungen immer gut ankommt. Koordinatoren haben einander übrigens lieb; nirgendwo lernt man so viele spannende Kolleginnen und Kollegen kennen und entdeckt so viele unerwartete Grundlagen für gemeinsame Projekte in Forschung und Lehre wie in diesen Gesprächen, eine willkommene Aufsprengung allzu eingefahrener Fachgrenzen (↑ Sammelband). Die Kommunikation über Fachgrenzen funktioniert dann prima, und man unterhält sich blendend darüber, wie wenig in jedem Fach die Kommunikation mit der Verwaltung funktioniert. Koordinatorinnen und Koordinatoren bewohnen gemeinsam eine Farce, die wiedererkennbar ist, gerade weil ihre Details, Nomenklaturen (↑ Bologna-Glossar) und »zentralen Gedanken« sich von Universität zu Universität, ja von Woche zu Woche himmelweit unterscheiden.
Ist das nicht einfach die bekannte Farce der Bürokratie? Ja, aber sie begegnet hier in einer spezifischen Entfesselung, weil sie Regulierung und Reguliertes ständig verwechselt, und zwar auch auf Seiten der Regulierten. Wer im gewohnten bürokratischen Alptraum verzweifelt von Amt zu Amt läuft, um Bescheid zu geben, dass er umgezogen ist, weiß doch immerhin selbst, wo er in Wirklichkeit wohnt. Die Akademiker in Deutschland, wenigstens und besonders die Geisteswissenschaftler, wussten es während der Bologna-Reform offenbar nicht. ›Wir haben uns nicht rechtzeitig gewehrt –‹: Stimmt, aber doch unter anderem auch deshalb, weil wir darauf gewartet haben, dass wir im Zuge der Reform gesagt bekommen, was wir denn eigentlich tun. Der Vorwurf, dass die Reform diese Frage nicht beantwortet, ist als einziger unberechtigt, denn dafür sollte sie nicht da sein und dafür sollte sie nicht da sein müssen. Aber so ergibt sich das Prinzip der unbeantworteten Frage nach dem grundlegenden inhaltlichen Gedanken einer inhaltslosen Verwaltungsreform: Immerzu wird Organisation und Inhalt konfundiert, und überall wird versucht, diese Differenz neu zu ziehen. Beides geschieht in Gestalt der Koordinatoren, von denen man nicht weiß, ob sie zur Verwaltung oder zu den Fächern gehören, und deren besondere Funktion vorher nicht existierte und jetzt darin besteht, diese unabschließbare Oszillation durchzuführen.
In einem Beitrag zu einem früheren Band der Unbedingten Universitäten hat Dirk Baecker einen Algorithmus vorgestellt, der Lehre (↑ Lehrauftrag), Forschung und Verwaltung der Universität zueinander in Beziehung setzt.2 Er geht dabei von der unbedingten Vorläufigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis aus, die ihre andauernde kritische Arbeit ausmacht: Weil Forschung eben nicht schon vorher angeben kann, was sie herausgefunden haben wird, und es ein Nachher innerhalb der Wissenschaft nicht gibt. Die Bologna-Reform fragt aber vom Gesichtspunkt des Nachher aus: Was wird ein Student gelernt haben, wenn er fertig ist – mit der Literatur, mit der Politik, mit der Gesellschaft, mit der Geschichte, mit dem Gegenstand seiner Wissenschaft? Damit wird er aber nie fertig, er macht nur einen Abschluss.3 Ein guter Grund also, die aus der Verwaltung geborene Frage, was wir da tun, inhaltlich nicht abschließend zu beantworten! Aber dass genau dieser Versuchung zu widerstehen ist, hieße es entschieden zu sagen, statt sich an halbherzigen Antworten zu versuchen.
»Wir bekommen es daher in der Universität mit Beobachtern zu tun, die sich an einer Paradoxie schon deswegen (nicht) stören, weil ihnen auffällt, dass sie sie nicht an der Arbeit hindert.«4 – so Baecker zur funktionalen Universität; wo Bologna scheitert, erleben wir im Gegenteil widerspruchsfreie Regeln, die die Arbeit behindern oder unmöglich machen, weil sie mit der Arbeit selbst verwechselt werden. Dass die kritische Distanz abhandenkommt, lässt sich im Einzelnen in der Koordinationsprosa nachvollziehen, die etwa zwischen Bologna- und Exzellenzinitiativen nur noch ans Ziel kommt, wenn sie lobt, statt Kritik zu üben: Niemand darf zum Beispiel zugeben, dass dringend ein Lektor fürs Rumänische fehlt. Diesen Mangel einzugestehen, gefährdet Akkreditierungen, Studiengänge, ganze Institute. Stattdessen muss Reichtum behauptet werden: Wir haben einen solchen Überschuss an Ideen und Arbeitskraft, dass wir ein neues Projekt zur Verbesserung der Fremdsprachenlehre im Rumänischen konzipieren können. Also gebt uns dafür noch eine Stelle, weil alles schon wunderbar ist. (↑ Exzellenz(en), velociferische) Die Affirmation wird System, und der Beobachter tut ganz so, als wäre sein Standpunkt mit dem Beobachteten identisch.
Baeckers Algorithmus bestimmt die Form der Universität schließlich (selbstverständlich in Spencer Browns Formenkalkül) als Verschachtelung von Verwaltung, Lehre, Forschung und dadurch modifizierter Universität selbst in verschiedenen Tiefen einer Kaskade von Unterscheidungen. Diese Bereiche werden aktiv unterschieden, solange sie bestehen sollen; die Unterscheidung tritt in die Universität in ihrem Kern wieder ein – Re-entry –, insofern in einem lebendigen System jedes scheinbar ausgeschlossene Dritte, auch die Verwaltung, den anderen Positionen, auch Forschung und Lehre, wiedereinschließbar bleibt und bleiben muss, solange diese Form operationabel sein soll. Gerade eine Autonomie der Lehre gibt es also nur in aktiver Unterscheidung zu, nicht in Unabhängigkeit von, ihrer Verwaltung.
Das ist nun gerade das Gegenteil der unendlichen Reduplikation der Differenz von Koordination und Koordiniertem, die Lehre und Forschung nicht gegenüber der Verwaltung positioniert, sondern immerzu im schlechten Sinne mit ihr verwechselt. Baecker weist der Verwaltung insbesondere die Zeitdimension zu. Sie skandiert Lehre und Forschung durch Fristen: Vorlesungszeiten, Prüfungsanmeldungen, Prüfungen, Abgabetermine und so fort. Die Verwaltung in Gestalt der Koordination aber zeichnet sich gerade durch ständige Unzeitigkeit aus, sie reformiert immer weiter, so dass der Lehre keine Fristen gesetzt werden, sondern alle Fristen immer im Begriff sind, seitens der Lehrenden und Forschenden neu definiert zu werden. So äußert sich die ↑ Kompetenz, über eine gelungene wissenschaftliche Qualifikationsarbeit entscheiden zu können, plötzlich und plötzlich nur noch in der Autorität, den Workload für eine solche Arbeit stunden- und punktgenau definieren zu können. Diese Autorität aber macht die Verwaltung den Fachvertretern notwendigerweise streitig, und dieser Streit gebiert Koordinatoren.
Diese Art einer ewig unabgeschlossenen Reform sollte nicht mit fortgesetzter Flexibilität oder Veränderungsfähigkeit verwechselt werden. Sie ist nicht das ewig unabgeschlossene Projekt der inhaltlich ewig vorläufigen Universität, sondern die rhetorische Verschiebung dieser Vorläufigkeit auf ein scheinbar in Kürze abzuschließendes Projekt der Verwaltung. Und sie nimmt ihre Gestalt nicht nur in den unzähligen nie verabschiedeten Entwürfen und den jedes Jahr neu verabschiedeten Reformfassungen aller Studien- und Prüfungsordnungen an, sondern auch in deren abermaliger Reduplikation im Betrieb. Denn zwar produziert Bologna überall dicke Handbücher und riesige Tabellen. Wer die Universität wechselt und sich in diesen Unterlagen informieren will, muss aber feststellen, dass vieles Wesentliche dort gerade nicht dokumentiert ist: Weil die Texte massiv interpretationsbedürftig sind, was gut wäre, wenn sie nicht zugleich einmalig allgemeinverbindlich interpretiert werden müssten. Das nennt man dann ›Lösungen unterhalb der Satzungsebene‹, womit aber nicht Freiheit für den einzelnen Dozenten, sondern eine weitere, verbindliche Kodifizierung seiner Arbeit durch eine weitere Verwaltungs-, also: Koordinationsschicht gemeint ist.
Noch einmal: Hier ist nur vom Scheitern die Rede. Es scheitert keineswegs immer. Aber diesen Band gibt es, weil es oft scheitert. Wann immer es bei uns gescheitert ist, habe ich es als Koordinator in dieser Form erlebt. In ihr emergieren die Bedingungen der Lehre wildwuchernd, weder im Sinne der jeweiligen detailgenauen Pläne noch als kreative Produktion von Möglichkeiten, sondern als beliebige Konstruktion von Einschränkungen. Es lohnt sich, das im Einzelfall genauer anzusehen, weil sich auch Massenkarambolagen in Zeitlupe lohnen, wenn man Straßenverkehrsplanung treiben will.
In einer erstaunlich langlebigen Entwurfsfassung der neuen geisteswissenschaftlichen Studiengänge in München drohte einem Studierenden folgendes Schicksal: Wenn er sich im ersten Semester entschied, Japanisch I zu belegen, wäre er im zweiten Semester gezwungen gewesen, mit Französisch II fortzusetzen. Das ist offensichtlich unsinnig. Dass es überhaupt dazu kommen konnte und dass es, als es auffiel, nicht sofort von allen Beteiligten abgelehnt wurde, sondern Koordinatoren in der Verwaltung allen Ernstes daran festhalten wollten, ist nur aus der Überblendung zu vieler gut gemeinter Vorschriften zu erklären. So sollen Studierende studieren können, ohne dass zwei Pflichtveranstaltungen einander durch zeitliche Überschneidung ausschließen. Das ist sinnvoll. Um das zwischen Neben- und Hauptfach zu garantieren, müsste man deren Kombinationen exakt durchplanen; das würde die Zahl der möglichen Kombinationen reduzieren, was nicht erwünscht ist. Stattdessen wird das Studium im Nebenfach flexibilisiert, so dass immer diejenigen Veranstaltungen aus einem sehr großen Angebot ausgewählt werden können, die in Zeitfenster des jeweiligen Hauptfachs fallen. Aber die Planungsdichte der Modularisierung soll ja gerade eine inhaltliche Kohärenz garantieren: So werden sehr große Module geschaffen, von denen eines Fremdsprachenerwerb heißt. Ihnen ist treu zu bleiben. Wer mit einer Fremdsprache anfängt, muss sie auch einige Semester lang fortsetzen. Wenn er also Fremdsprache I gewählt hat, ist ihm als nächstes Fremdsprache II vorgeschrieben. Wenn aber im zweiten Semester nicht mehr Japanisch, sondern nur Französisch in die Zeitfenster des Hauptfachs fällt – nun, das ist eben der zentrale Gedanke der Bologna-Reform.
Diese Karambolage geschieht am runden Tisch der Koordinatoren. Einmal in die Welt gesetzt, kann diese Fehlentwicklung nur noch mit erheblichem Aufwand und gegen die Verwaltung wieder korrigiert werden. Nun gehe also zu deinen Kollegen und berichte ihnen, was euer Entwurf ausgelöst hat: Den Gesichtsausdruck vergisst du so schnell nicht mehr. Bitte sie, einen Brief zu unterschreiben, der die Stabstelle anfleht, dass Studierende möglichst nicht aus dem Japanischkurs kommend Französisch sprechen müssen: Sie lachen. Du schweigst betroffen. Jetzt fragen sie nach. Fang bei Adam, Eva und der ↑ Überschneidungsfreiheit an: Sie halten dich für verrückt. Recht haben sie.
Das also ist die Rolle der Koordinatorinnen und Koordinatoren. Sie sind die lebendige Verwechslung von Verwaltung und Wissenschaft, und sie meinen es gut. Was kann man da tun? Es hat schon immer Absprachen zwischen Lehre und Verwaltung geben müssen, in denen inhaltliche und organisatorische Aspekte vermittelt werden. Aber diese Absprachen müssen endlich sein, es gilt, sie darauf zu begrenzen, dass der Unterschied zwischen Lehre und Verwaltung jederzeit gemacht werden kann. Und deshalb, so glaube ich inzwischen, sollte der Koordinator vor allem eines tun: Sich zurückhalten, wenn sich ein Problem der Lehre für eine Lösung durch die Verwaltung anbietet, oder umgekehrt eine Form, die aus der Verwaltung stammt, nach einer Interpretation durch Inhalte der Lehre ruft.
Widerstand also als Widerstehen. Und die Versuchung, der es zu widerstehen gilt, ist groß. Da locken sinnvolle, überzeugende, semantisch gut begründete Abbildungen des Inhalts auf die Struktur, und es bräuchte nur ein klares System mit ein paar Definitionen, dann wäre Verwaltung und Lehre gegenseitig transparent, um der Sache willen … Wissenschaftler denken gerne in Systemen. Die Aufforderung der Verwaltung, kleine Kästchen mit trennscharfen Distinktionen über die Inhalte ihrer Wissenschaft zu füllen, reizt sie nicht nur zur Weißglut, sondern, geben wir es zu, auch zum Ausprobieren. Stefan Kühl hat die Bologna-Bürokratie mit Fokus allein auf die ECTS-Punkte treffend als Sudoku-Effekt beschrieben,5 aber Sudokus machen Spaß. Und zwar uns. Denn wenn es einen Namen für einen Menschen gibt, der ein halbgelöstes Sudoku nicht liegenlassen kann, dann dürfte er Akademiker lauten. Als hätten erst die Rechts- und Prüfungsabteilungen das Glasperlenspiel erfunden, von wegen!
Erst recht, wenn die ehrliche Freude bei der Gestaltung der Lehre hinzukommt, die sich aus der Liebe zur Lehre selbst speist. Am schlimmsten ist deshalb die Versuchung, wenn man gerade eine offensichtlich misslungene Ausgeburt der Bürokratie angreift: »Was für ein Unsinn, die Mehrfachverwendung eines Seminars fürs zweite und vierte Fachsemester zu verbieten!« Richtig, das ist Unsinn. »Sollen doch die Lehrenden entscheiden, wann es schadet, verschieden erfahrene Studierende in den selben Kurs zu setzen – nicht irgendwelche Bürokraten.« Ja, das wäre sinnvoll. »Manchmal ist es am besten, wenn sie sich untereinander austauschen, Fragen der jüngeren mit Antworten der älteren konfrontieren können.« Stimmt, das klappt oft prima. »Gut – antworten wir also der Verwaltung: Wir halten die Mehrfachverwendung von Seminaren vielmehr für eine Tugend und definieren hiermit einen ECTS-Korridor, wonach wenigstens x und höchstens y und am besten z2=(a*b) Punkte in mehrfach verwendeten Seminaren …« Und da geht’s schief. (Und ja, auch dieses Beispiel ist echt, samt der Formel. Sie wurde aber nie eingeführt. Wer dennoch spaßeshalber wissen will, wofür sie stand, ist auf die Versuchung hereingefallen: Sehen Sie das Problem?)
Hier spielen übrigens Akkreditierungsprozesse eine weitere ihrer vielen unrühmlichen Rollen: Dass es Akkreditierungsagenturen überhaupt gibt, ist nur möglich, weil die Lehre, die sie akkreditieren sollen, mit der Verwaltung, über deren Kompetenz sie verfügen, konfundiert wird (↑ Qualitätssicherung). Ein guter Akkreditierungsantrag, meint man, müsse hinreichend ausführlich sein. Wie will man die Seiten füllen, um zu beweisen, dass man sich lange und gründlich Gedanken über die Struktur des Studiengangs gemacht hat? Gegenwärtig geschieht das oft, indem möglichst viel Struktur festgelegt wird. Die Textsorte eines solchen Antrags ist nur (1) für inhaltliche Schilderungen didaktischer und wissenschaftlicher Ziele sowie (2) für Regeln der Verwaltung offen. Kohärenz in diesen Texten wird folgerichtig durch die Verwechslung beider erkauft.
Abschaffen kann man Koordinatoren im gegenwärtigen Zustand nicht leicht, weil sie so grob definiert sind, dass sie überall entstehen können, wenn sie anderswo fehlen: Ein Institut, das auf Koordinatoren verzichtet, wird inhaltlich von Prüfungsamt und Stabstelle regiert oder versinkt in einem Chaos unverstandener Formulare. Aber vielleicht kann man den Koordinationsdiskurs so einsetzen, wie er nützlich wäre: Als ständige Bemühung um seine eigene Verkürzung, indem der Bereich der Entdifferenzierung zwischen Lehre und Verwaltung so klein wie möglich gehalten wird. Dazu müssten wir lernen, dass sich Lehre gegenüber der Verwaltung nicht als autonom definiert, wenn sie möglichst viele Verwaltungsvorschriften selbst schreibt, sondern wenn diese nicht ihre Sache sind. Die Arbeit wird dadurch freilich nicht weniger – denn jeder Versuchung, die Organisation einmalig im Vorhinein durch klare Regeln zu erledigen, gilt es abzusagen: Wir brauchen längere Sprechstunden und kürzere Modulhandbücher.
Giorgio Agamben hat nachgezeichnet, wie moderne Dispositive als Fortsetzung jener theologischen oikonomia gedacht werden können, die eine verwaltungsgemäße Struktur in die Dreifaltigkeit Gottes einschreiben und dann gerade dadurch die Funktionen von den Seinsweisen unüberwindlich trennen kann: »Dem Handeln […] fehlt jede Begründung im Sein: Dies ist die Schizophrenie […].«6 Dispositive mögen unverzichtbar sein; für die Gegenwart aber diagnostiziert Agamben deren Übermaß, eine zu große Vielfalt an kleinen Dispositiven, die das Subjekt alle neu konstituieren sollen, »denen jedoch keine wirkliche Subjektivierung mehr entspricht«.7 Die Wiederholung der Inhalte der Lehre in der nur scheinbar virtuellen Gestalt ihrer Verwaltung schafft gerade ein solches Dispositiv zu viel: Denn die Lehre ist bereits disponiert als Lehre. Die Verwaltungsstruktur sollte sie nicht abermals umdisponieren. Einmal begonnen, geht diese Reduplikation potentiell endlos weiter, weil immer in einer anderen Ordnung nachgelesen werden kann, wie die eine Ordnung aussehen muss, solange diese die eigene Ordnung von der äußeren Bedingung nicht unterscheiden kann. Die Frage, was der zentrale Gedanke eigentlich einmal war, wird so ständig an ein Jenseits gestellt, das konstitutiv außerstande ist, sie zu beantworten.
Kritik am Überangebot der Dispositive muss sich demnach hüten, deren Zahl nicht um bessere Vorschläge zu verlängern. Wenn das stimmt, muss Widerstand für Koordinatorinnen und Koordinatoren vor allem darin bestehen, der ständigen Versuchung zur Schaffung sinnvoller Ordnung zu widerstehen.
1 Mehr oder weniger zu diesem Schluss kommt auch die Diskursanalyse der europäischen Bolognabeschlüsse in Jens Maeße: Die vielen Stimmen des Bologna-Prozesses. Zur diskursiven Logik eines bildungspolitischen Programms, Bielefeld 2010, hier v.a. S.180f.
2 Dirk Baecker: »Forschung, Lehre und Verwaltung«, in: Unbedingte Universitäten (Hgg.): Was passiert? Stellungnahmen zur Lage der Universität, Zürich 2010, S. 311–332.
3 Vgl. dazu auch Marcus Coelen: »Verabschiedung der Universität«, in: Unbedingte Universitäten (Hgg.): Was passiert? Stellungnahmen zur Lage der Universität, Zürich 2010, S. 95–101.
4 Baecker: »Forschung, Lehre und Verwaltung«, in: Was passiert?, a.a.O., S. 317.
5 Stefan Kühl: Der Sudoku-Effekt. Hochschulen im Teufelskreis der Bürokratie. Eine Streitschrift, Bielefeld 2012.
6 Giorgio Agamben: Was ist ein Dispositiv?, übers. v. A. Hiepko, Zürich, Berlin 2008, hier S. 21.
7 Ebd., S. 39.
»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.
Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.