Schon die Definition der Begabtenförderung ist nicht unumstritten. Es kann sich sowohl um die Leistungen der Lernenden bzw. Studierenden handeln (↑ Leistungspunkte/ECTS), als auch um ihre Potenziale (↑ Machen). Man kann jedoch die Potenziale kaum messen, ohne auf die Leistungen zu greifen, mit anderen Worten: Die Annahmen über Potenziale ohne Feststellung der Leistungen sind nicht verifizierbar. Wenn man jedoch von der Begabung im Sinne hoher Leistungen oder bereits erreichter Fertigkeiten (die sich auch in irgendwelchen Leistungen manifestieren) spricht, so unterstreicht man nur eine wichtige Seite der Erscheinung und verdeckt vollständig die andere Seite. Die Fertigkeiten, die man als »Begabung« beschreibt, sind zwar durchaus eine »Gabe«, aber nicht bzw. in einem sehr beschränktem Maße von Natur aus gegeben, sondern vielmehr abhängig von der sozialen Herkunft einer/eines Begabten. Dazu zählt die Familie und das soziale Umfeld, welches beeinflusst, wofür sich ein Kind interessiert, mit wem es sich unterhält, wie viele und welche Sprachen es zu sprechen lernt, wie andere es wahrnehmen usw. Es ist also sehr naheliegend, »Begabung« als vorhandene Bildung samt einem spezifischen, in den bildungsnahen Kreisen erwarteten Habitus umzuschreiben. Doch zwingt das meritokratische Konzept der Bildung dazu, Menschen mit »Potenzialen« zu finden, die »unsere« Gesellschaft jeweils braucht, die sich aber schnell in ein bloß individuelles Verdienst verkehren. In diesem Sinn ist »Begabung« an soziale Voraussetzungen gebunden und keineswegs unabhängig von diesen.
Unter »gifted education« in den USA oder »Hochbegabtenförderung« in Österreich werden am häufigsten besondere Maßnahmen im Unterricht verstanden, die den Begabten helfen sollen, ihre Potenziale weiter zu entwickeln. Dagegen legt die öffentliche Debatte in Deutschland den Akzent auf Stipendien und Zuschüsse, die die als Begabten bezeichneten StudentInnen fördern sollen. Somit treten auch die Gesichtspunkte der Kostenverteilung und der sozialen Gerechtigkeit oft ins Zentrum der Diskussionen. Zudem werden die zwölf größten Begabtenfördernetzwerke Deutschlands, darunter parteiliche, kirchliche, gewerkschaftliche und wirtschaftsnahe, staatlich, und das heißt durch Steuergelder, gefördert (↑ Elite, Exzellenz).
Allgemeine Voraussetzungen für die Bewerbung bei den meisten Begabtenförderwerken sind hohe Leistungen, gesellschaftliches und politisches Engagement, das Bekenntnis zu den wichtigsten Zielen und Prinzipien der jeweiligen Stiftung, also ideologische Nähe zu ihnen. Bei verschiedenen Stiftungen werden diese Voraussetzungen unterschiedlich gewichtet. Manchmal wird auch die soziale Lage der BewerberInnen berücksichtigt, um jungen Leuten aus bildungsfernen Familien oder denen, die einen Migrationshintergrund haben, den sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Erwähnenswert ist auch, dass einige Stiftungen, insbesondere die, die links oder mitte-links stehen, ihre an Studierende und Promovierende adressierte Förderung seltener »Begabtenförderung« nennen und stattdessen eher allgemein von »Stipendien« bzw. »Förderung« sprechen. Doch das ändert nichts an der allgemeinen Tendenz, dass die BewerberInnen, deren Eltern einen Hochschulabschluss haben und die aus einkommensreicheren Bevölkerungsschichten stammen, weit bessere Chancen auf das Stipendium haben als ihre ärmeren und bildungsferneren MitbürgerInnen. Der Anteil der Geförderten, die einen Migrationshintergrund haben, liegt deutlich unter dem Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Das mag daran liegen, dass – so die Allensbachstudie aus dem Jahr 2009 – die Studierneigung stark von der Selbsteinschätzung der Schulleistung abhängt. Und sie ist, sogar wenn man »begabte« AbiturientInnen aus bildungsnahen und bildungsfernen Schichten miteinander vergleicht, bei den letzteren deutlich geringer. StudienbewerberInnen mit weniger gebildeten Eltern wenden sich deswegen seltener an die Begabtenförderwerke trotz ihrem größeren Finanzierungsbedarf: So sagen die AbiturientInnen, deren Eltern einen Haupt- oder Realschule als höchsten Abschluss haben, um 17% seltener als die AbiturientInnen, deren Eltern studiert haben, ihnen falle die Finanzierung des Studiums sehr leicht, und um 14% öfter, ihnen falle die Finanzierung sehr schwer.1 Es verwundert nicht, dass es in der Öffentlichkeit zuweilen heißt, mit der Begabtenförderung stecke die ↑ Elite der Elite Geld in die Tasche.
Unter den Ursachen, warum sich AbiturientInnen aus bildungsfernen Bevölkerungsschichten seltener um ein Stipendium bewerben und geringere Chancen haben, sind folgende zu nennen: geringere Informiertheit über die Studienfinanzierungsmöglichkeiten; pessimistischere Erwartungen und Selbsteinschätzungen; durchschnittlich schlechtere Bildungsvoraussetzungen; weniger selbstbewusstes Auftreten (↑ Kompetenzen) (dieser Nachteil trifft auch NaturwissenschaftlerInnen und MathematikerInnen); weniger Freizeit (↑ Lebensführung, studentische), die eine wichtige Voraussetzung für das als eines der Kriterien für die Aufnahme in die Förderung geltende gesellschaftliche Engagement ist.
Insgesamt erhielten in den letzten Jahren drei bis vier Prozent der Studierenden ein Stipendium2 – bei ziemlich starker Konkurrenz, in der nur noch jede/r Dritte/r in die Förderprogramme aufgenommen wird.3 Trotz der vergleichsweise geringen Zahl geförderter StudentInnen sind die Stipendien wie auch die fördernden Stiftungen ziemlich weit bekannt. Die als Werbung für einzelne Stipendien und die gesamten Begabtenförderwerke dienenden Mottos und Parolen lauten: »Künftige Elite«, »Spitzenkräfte von morgen«, »Verantwortung für die Gesellschaft«, »Kreativität«, »Innovationen«, »Konkurrenzfähigkeit Deutschlands«. Wer zu einer Elite gehören, die Verantwortung für die Gesamtbevölkerung übernehmen und die Interessen der deutschen Wirtschaft auf den Weltmärkten durchsetzen will, ist in der Förderung also besonders willkommen.
In privaten Gesprächen sagen die Geförderten aus einkommensstarken Familien manchmal, das Geld, das ihnen im Rahmen der Begabtenförderung gezahlt wird, bringe dem Bildungssystem nicht viel. Diese Einstellung wird auch durch die Initiative der StipendiatInnen bezeugt, die dazu aufgerufen haben, das erhöhte einkommensunabhängige Büchergeld für die aus ihrer Sicht wichtigeren sozialen Projekte zu spenden. Auf diese Idee kamen die StipendiatInnen der Studienstiftung des Deutschen Volkes und der Stiftung der Deutschen Wirtschaft im Jahr 2011,4 aber sie zirkulierte auch schon früher unter den StipendiatInnen der Begabtenförderwerke. Es fragt sich dann jedoch: Wozu sich überhaupt bewerben? Die Antwort lautet öfters: Vernetzung und die sogenannte ideelle Förderung. Sie besteht aus einer Reihe begleitender Seminare, Podiumsdiskussionen, informeller StipendiatInnentreffen usf., bei denen Inhalte vermittelt und Themen diskutiert werden, die in das ideologische Profil des jeweiligen Begabtenförderungswerkes gut passen. Damit die ideologische Reproduktion nicht so einseitig und oktroyiert erscheint, haben die StipendiatInnen in der Regel die Möglichkeit, das Veranstaltungsprogramm mitzugestalten. Auch wenn die ideelle Förderung bzw. Vernetzung manchmal ein ausschlaggebendes Motiv ist, sich für ein Stipendium zu bewerben, gibt es bei den Stiftungen keine Option, eine Bewerbung auf die ideelle Förderung ohne Stipendium zu beschränken.
Ein neues Förderungsprojekt aus dem Jahr 2011 heißt »Deutschlandstipendium«. (Die unter http://www.deutschland-stipendium.de zugänglichen Informationen sind sehr erhellend bezüglich der Zwecke der Begabungsförderung und der dazugehörigen Klischees.) Durch dieses weit beworbene Projekt versucht das Bildungsministerium, das neoliberale Modell des public-private partnership auf Bildungsförderung in Deutschland zu übertragen (↑ Korporatisierung). Von insgesamt 300 Euro zahlt ein Unternehmen die eine und der Staat die andere Hälfte. Die interessierten privaten FördererInnen sollen sich direkt bei den Universitäten melden. Die Idee dabei ist, dass die Arbeitgeber als künftige Konsumenten der Arbeitskräfte daran interessiert seien, für die Ausbildung der Arbeitskräfte zu zahlen (↑ Arbeitsmarkt). Doch die ersten Ergebnisse widerlegen diese dem Projekt zugrundeliegende Hypothese. Obwohl die Bildungsministerin Annette Schavan die Hoffnung pflegte, 2011 insgesamt 10.000 Stipendien einwerben zu können, verfügten nur 4.800 deutsche Studierende am Ende des Jahres über ein Deutschlandstipendium.5 Auch die Möglichkeit, die Bildungspolitik inhaltlich zu beeinflussen – laut dem Gesetz zur Schaffung eines nationalen Stipendienprogramms können die privaten Mittelgeber »ihre« Stipendien an bestimmte Fachrichtungen oder Studiengänge binden –, lockt nur wenige Unternehmen an. Und auch die Studierenden zeigten kein reges Interesse an dem Programm. Das Deutschlandstipendium ist im Moment – vielleicht trotz Erwartungen politischer Eliten – zu einer möglichen Legitimierung für den Abbau staatlicher Förderungsprogramme schlecht geeignet. Es fragt sich, ob ein breiteres öffentliches Stipendienprogramm, das auch für die einkommensschwächeren Schichten besseren Zugang ermöglichte, nicht effektiver und gerechter wäre. Das durch Umverteilung finanzierte BAföG bringt in dieser Hinsicht viel mehr als Predigten in Wirtschaftskreisen.
Doch nicht nur der finanzielle Aspekt der Begabungsförderung wäre kritisch zu reflektieren, sondern auch seine Zwecke und seine Rolle bei der Erhaltung der aktuellen Gesellschaftsordnung. Vittorio Hösle ist darin zuzustimmen, dass Begabung ein komparativer Begriff ist, der Hand in Hand mit der Ungleichheit bestimmter Fähigkeiten geht.6 Das heißt, eine gewisse Ungleichheit hinsichtlich »Begabungen« wird auch in einer wirtschaftlich egalitären Gesellschaft aufrechterhalten bleiben. Doch gleichzeitig die Wichtigkeit der finanziellen Seite der Begabungsförderung unter dem Gesichtspunkt der Verteilungsgerechtigkeit zu bezweifeln und auf der Bildung der Führungskräfte als wichtigstem Ziel der Begabungsförderung zu insistieren,7 scheint eine widersprüchliche Position in einem System zu sein, in dem Führungspositionen automatisch das Hundertfache des Einkommens im Vergleich zum Einkommen der Untergeordneten garantieren. Auch Versuche, besondere moralische Fähigkeiten bei den Beförderten zu entwickeln, werden darauf hinauslaufen, »Verantwortlichkeit für andere« zu lernen (sei es in einem Unternehmen, in einer Behörde oder im Staat), sprich: eben eine gute Führungskraft zu sein – mit entsprechenden Folgen für die Verteilungs-(un-)gerechtigkeit.
1 Vgl. Schaubild 25 in: Chancengerechtigkeit? Studienfinanzierung als wichtiger Faktor der Entscheidungsfindung für die Aufnahme bzw. den Abbruch eines Hochschulstudiums. Erkenntnisse aus repräsentativen Befragungen von Abiturienten und Studenten im Auftrag des Reemtsma Begabtenförderungswerks (o.V.), Allensbach am Bodensee 2009, S.37.
2 Vgl. Chancengerechtigkeit? 2009, S. 41, sowie Isserstedt, Wolfgang et al. Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2009. 19. Sozialerhebung des deutschen Studentenwerks, durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System, hg. v. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Bonn u. Berlin 2010, S. 14.
3 Vgl. Chancengerechtigkeit? 2009, S. 7.
4 Vgl. Alexander Budweg: »Stipendiaten sollen spenden«, in: taz.de, August 2011, http://www.taz.de/Stipendiaten-sollen-spenden/!76414 (aufgerufen: 12.06.2012).
5 Vgl. Anna Lehmann: »Stipendium von der Stange«, in: taz.de, Dezember 2011, http://www.taz.de/Erfolglose-Studienfoerderung/!84515/ (aufgerufen: 12.06.2012).
6 Vgl. Vittorio Hösle: »Chancen und Gefahren von Begabung und Begabungsförderung«, in: Holger Burckhart/Horst Gronke (Hgg.): Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik, Würzburg 2002.
7 Ebd., S. 740–742.
»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.
Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.