Modul kommt vom lateinischen »modus« und steht in seiner ersten Bedeutung für Maß, Maßstab. Im Zuge des ↑ Bologna-Prozesses ist die Einführung von Modulen und der dazugehörige Vorgang der Modularisierung zum wichtigsten Verfahren geworden, mit dem das Bologna-Ideal der Homogenisierung des europäischen Hochschulraums umgesetzt werden soll. Modul ist überdies sogar nicht nur der Name der neuen Studienform geworden – man redet jetzt von »modularisierten Studiengängen«, um dadurch die neuen Bologna-Studiengänge von den alten, herkömmlichen Studiengängen zu unterscheiden – sondern mehr noch als das: Modularisierung ist die Synekdoche für den ganzen Bologna-Prozess schlechthin. Dass sich nun selbst die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) modularisiert hat, zeigt die umfassende Ausbreitung des Modularen. Man kann sich fragen, was bei dieser Benennung passiert. Welche neuen Ordnungen entstehen und welche politischen Vorstellungen durchziehen damit den Raum Universität? (↑ Bestiarium)
Auf den ersten Blick hat man es mit einem Globalisierungseffekt (↑ Globalisierung) zu tun: Ein im Englischen geläufiger Begriff wird in den deutschen Sprachraum übertragen. Dass bei dieser Übertragung das Lateinische zu Grunde liegt, ist an der Oberfläche meist nicht mehr zu sehen. Dennoch hat man es hier mit einer Übertragung aus dem Lateinischen zu tun. Man könnte also fragen, ob bei der Übertragung des englischen respektive lateinischen Worts in den Kontext des Bologna-Prozesses etwas aus der römischen Antike übernommen wird, das zwar nicht mehr mitgedacht, implizit aber noch verhandelt wird.
In der römischen Antike verwenden die Mehrzahl der philosophischen, rhetorischen und literarischen Autoren (Horaz, Cicero, Quintilian, Seneca) »modus« für das rechte Maß. Modus ist eine Kategorie der Regularisierung: des Maßes als Messen, und mehr noch: Es impliziert zudem die Richtigkeit dieses Regelmaßes. Nicht überraschend für die römische Antike ist dabei, dass die Rede über das Maßhalten in Sentenzen gefasst wird. »Modus« regelt die Lebensführung, gehört also zu den Kategorien der Lebensweisheiten, insofern die Sentenzen darauf ausgerichtet sind, zum richtigen Leben anzuleiten. Wer das rechte Maß einhalten kann, lebt im Sinne der römischer Lebensphilosophie: »Optimus tamen modus est. Das rechte Maß ist aber doch das beste!«1 Herr über das richtige Maß zu sein, garantiert die Optimierung der Lebensweise des römischen Bürgers. Module sind also schon in der Antike ökonomische Praktiken. Das macht wiederum eine Seneca’sche Sentenz deutlich: »Alles, was übersteigt das Maß, steht auf schwankendem Fundament, oder was immer das Maß überschritt, schwebt an unsicherer Stelle.«2 Dabei ist der Maßstab die Natur, »naturalis modus«. Gut ist, was der Natur entsprechend ein Übermaß nicht übersteigt, weder zu viel noch zu wenig lautet also die Modularisierungsregel in Rom, die damit das individuelle Leben in Kategorien von Selbstperfektion und Selbstökonomie einlässt.
Auch in der Rhetorik ist das Maßhalten-Können von großer Bedeutung. Am deutlichsten wird die Vorstellung des rechten Maßes bei Quintilian, wenn er über das Maß der aufgewendeten Zeit spricht, die das Verfassen eines schriftlichen Textes in Anspruch nehmen sollte: »Auch die aufgewendete Zeit muß ihr Maß haben.«3 Bei beiden, Moralphilosophen und Rhetorikern, kommt es beim Maßhalten darauf an, dass es sich um eine individuelle Technik (der Rede-, Schreib- oder Lebensweise) handelt, die den jeweiligen Lebenssituationen angepasst werden kann.
Im Unterschied dazu ist der Bologna-Prozess eine politische Maßnahme, die von der Umsetzung der Idee einer globalen Universitätslandschaft getragen ist. Module sollen transnationale Übergänge (↑ Leistungspunkte/ECTS) schaffen, die es ermöglichen, innerhalb eines gesamteuropäischen Raums zu studieren und zu lernen. Dieses »Europa des Wissens« soll daran erinnern, dass Europa nicht nur durch eine gemeinsame Währung vereint ist, sondern auch durch ein gemeinsames Wissen (Sorbonne-Declaration, 25.5.1998).4 Der Bologna-Prozess verfolgt somit einen hohen Anspruch: Er möchte die Umsetzung der gesamteuropäischen Einheit nicht nur fördern, sondern auch eine »Idee Europa« jenseits der Finanzmärkte begründen. Europäische Bürgerschaft wird darin neu definiert: Sie basiert auf der Vorstellung, dass Europas Einheit auch der Produktion von symbolischem Kapital verpflichtet ist. Die Modularisierung von Studiengängen, die diesen symbolischen Anspruch in die Praxis umsetzt, ist damit in erster Linie eine globalisierende Maßnahme, die den Studierenden ein höchstmögliches Maß an »Freiheit« gewähren soll, wie es in der Magna Charta Universitatum (18.9.1988)5 heißt.
Das Modul ist hierbei jedoch nicht mehr wie in der römischen Antike der Maßstab eigener Lebensführung, sondern Vorgabe eines globalen Regelmaßes. Denn tatsächlich soll nicht die eigene Lebensform nach individuellen Maßstäben ausgerichtet werden, sondern die Lebensform Universität wird nach objektiven Maßstäben regularisiert. Jenseits aller Versprechen bedeutet dies eine von außen dem Subjekt vorgeschriebene Regularisierung des Wissens. Die mit dem Maßstab implizierten Kategorien von Ökonomie und Perfektion werden jetzt nicht mehr als selbstgewählte, sondern als vorgeschriebene Maßnahmen erfahren (↑ Austauschbarkeit). Damit kommt es zu einem Zerbrechen des antik-römischen Bündnisses von Maß und Selbstverhältnis. Diente das Maßhalten dort als Lebensform, die den jeweiligen Lebensumständen angepasst werden konnte, so ist dies jetzt eine nicht selbstgewählte Lernform, die nicht mehr an die jeweilige Lebenssituation angepasst werden kann.
Dennoch wirkt die Regularisierung durch das Modul auf das Individuum ein, allerdings geraten hierbei Ökonomie und Perfektion in ein Missverhältnis. Sie stehen nicht mehr im Dienst des Selbst, sondern kommen Europa zugute. Die Modularisierung erfolgt im Zeichen der Verwirklichung einer globalen Idee, in der immer wieder betont wird und betont werden kann, wie sehr diese als positive Möglichkeit und nicht als negative Unterdrückung verstanden werden soll. Diese Positivierung konfrontiert uns mit der Unmöglichkeit, uns dagegen zu wehren. Da die Trennung von Selbst und Staat verwischt worden ist, bedeutet jedes Aufbegehren immer auch, sich gegen sich selbst zu wenden. Anstatt zu rebellieren, reagieren die Betroffenen mit Erschöpfung (↑ Lebensführung, studentische). Doch nicht ein Mehr an Wissen führt zur Überforderung der »neuen« Studierenden, sondern die Überforderung resultiert aus der Unmöglichkeit, das zu erwerbende Wissen in eine individuelle Praxis zu überführen. Denn in dem Moment, in dem die individualisierte Technik des rechten Maßes nicht mehr aus eigenem Wunsch heraus erfolgt, kippt sie in eine repressive Maßnahme.
Die Erschöpfung des Selbst ist also die logische Folge einer Modularisierung, die es verpasst hat, das Maßhalten als je neu zu verhandelnde, immer wieder neu zu erschließende und nie abgeschlossene Lernform zu definieren. Die Vergessenheit der Tradition ist es, die Bologna zu dem gemacht hat, als das wir es heute erleben: als juridischen Akt – Bologna-Prozess –, der seine souveräne Macht ins Innere des Subjekts verlagert, ohne daran zu erinnern, dass wir uns in Bezug auf die Tradition hätten neu erfinden müssen. Damit wird zum Stillstand gebracht, was als offener Prozess zu einer modernen Form des Maßes hätte führen können, die den Anforderungen der Idee Europas gerecht geworden wäre.
1 Plinius Minor: Epistolae, I, 20, 20.
2 Seneca: Oedipus IV, 909, 4. Chorlied.
3 Quintilian: De oratore, X, 4,2; 4.
4 Claude Allegre, Luigi Berlinguer, Tessa Blackstone, Jürgen Rüttgers (Ministers in charge for France, Italy, Germany and the United Kingdom): Sorbonne-Declaration, Mai 1998, http://www.bologna-berlin2003.de/pdf/Sorbonne_declaration.pdf (aufgerufen: 15.05.2012).
5 Magna Charta Universitatum, September 1988, http://magna-charta.org/library/userfiles/file/mc_english.pdf (aufgerufen: 15.05.2012).
»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.
Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.