Während sich in der Mediengesellschaft die Aufmerksamkeit verflüssigt und jederzeit in jede Richtung abfließen kann, hat gemäß der These von der breiten Gegenwart das Vergangene keinen Abfluss mehr. Gegenwart ist nicht mehr der momenthafte Durchgang zur Zukunft. Verschiedenste Weltsichten stehen mit grundsätzlich gleichem Geltungsanspruch im Raum, und stehen in ihrer Unvereinbarkeit einer offenen Zukunft im Weg. Die damit verbundene Stagnation ist lesbar als Emanzipation in der kulturellen Sphäre: Der Einzelne nimmt sich die Freiheit, zu interpretieren und zu werten, zu rezipieren und zu produzieren und dabei eigene Kriterien zu setzen. Die Breitenkultur relativiert die Spitzenkultur. Kulturgeschichte als Kolonialgeschichte wandert ins Innere des Konsumenten.
Ruedi Widmer »Breite Gegenwart« erscheint in Ihren Schriften als eine in der Gegenwart vorherrschende, alle Einzelwahrnehmungen überwölbende Zeitwahrnehmung, in welcher Vergangenheit nicht mehr etwas ist, was man hinter sich lässt, und in welcher die Türen zu einer »anderen« Zukunft verschlossen sind. Diese Zeitwahrnehmung nennen Sie »Chronotop«, und Sie unterscheiden den Chronotopen der breiten Gegenwart vom »historistischen Chronotopen« des Fortschritts. Handelt es sich bei der breiten Gegenwart nicht eher um einen Effekt des Umstandes, dass die Weltsichten pluraler nicht sein könnten und gleich-gültig nebeneinander stehen?
Hans Ulrich Gumbrecht Daraus, dass wir in der breiten Gegenwart die Vergangenheit nicht hinter uns lassen können, folgt ja, dass auch vorhandene Chronotopen nicht »aussortiert« werden können. Der Chronotop, den ich den historistischen nenne und der beispielsweise die Bedingung der Möglichkeit klassisch kapitalistischer und sozialistischer Fortschrittsvorstellungen darstellt, ist immer noch da. Die Schwierigkeit ist dann, dass es eben doch möglich ist, den Chronotopen der breiten Gegenwart als dominierend zu empfinden, d.h. als Weltsicht, die mehr »zündet«. Ein Beispiel sind die Protestaktionen in Brasilien während des Fifa-Confederation-Cups: Mir hat ein brasilianischer Student gesagt, dass dies nichts mit großen Zukunftsprojekten zu tun gehabt habe, sondern eher mit der Suche nach einer Intensität, die er mit breiter Gegenwart assoziiert.
Ruedi Widmer Die Protestierenden waren also, wenn ich das richtig interpretiere, nicht nur unzufrieden mit den Lebensbedingungen und den Leistungen der Politik – das wurde ja artikuliert –, sondern hatten gewissermaßen eine Liberalisierung des Denkens und Erlebens im Auge.
Hans Ulrich Gumbrecht Das würde die breite Gegenwart mehr in die Richtung lesbar machen, die Sie vorgeschlagen hatten, nämlich quasi als Null-Level eines Chronotopen. Gegenwärtige Politik kann nicht anders, als zuerst die Gestaltbarkeit der Zukunft zu behaupten – siehe Obama mit seinem »yes we can« – und sich hinterher im Krisenmanagement und in der Alternativenlosigkeit zu arrangieren. Das Resultat ist das Gegenteil einer besseren Zukunft, es ist ein großes Gulasch. Das Web ist die Allegorie davon, und zugleich eine der wesentlichen Ursachen. Alles ist immer schon zuhanden, und da alles grundsätzlich gleichviel gilt, wird das Anliegen der größeren Lebens-Intensität just von dem Freiheitsbestreben neutralisiert, auf dem es beruht. Es ist wie diese sinnbildliche Situation, die ich einmal – ebenfalls in Brasilien – erlebte: Zwei junge Paare im Ausgang, und alle vier sind gleichzeitig am Telefonieren mit jemandem, der nicht da ist.
Ruedi Widmer Gegenwart als ein miteinander Sprechen und aufeinander Konzentriertsein verliert also an Selbstverständlichkeit. Die Verfügbarkeit für das Gespräch muss recht eigentlich hergestellt, wenn nicht erkämpft werden.
Hans Ulrich Gumbrecht Ein Beispiel: Ich weigere mich seit einiger Zeit, Vorträge, bevor ich sie halte, als schriftliche Zusammenfassung zur Verfügung zu stellen. Der Grund ist, dass die Leute, wenn sie überhaupt kommen, mit dem Gefühl kommen, sie seien schon informiert. Die Luft wird sozusagen aus der Intensität der Ereignisse herausgenommen. Hier in Stanford sind wir zwar bisher erfolgreich im Bemühen, an der Hochschule das Gespräch ins Zentrum zu stellen. Gleichzeitig ist der Modus der Überlegung mittlerweile der: Wenn ich nichts Besseres zu tun habe, dann komme ich da hin. Darauf reagieren Hochschulen zunehmend wie sonst eine Organisation im Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Distant Learning wird bald das Normale sein, Präsenz die Abweichung von der Norm. Stanford ist im übrigen mit seiner Distant Learning-Politik ein Agent davon. Zusammen mit Google sorgen wir dafür, dass das gesammelte schriftlich verfügbare Wissen der Welt online verfügbar wird.
Ruedi Widmer Das ist die Vision des allumfassenden Archivs, oder als Negativvorstellung der universale Abstellplatz, wo das Wertvolle im Wertlosen untergeht. Parallel dazu gibt es die Frage, wie und wo ich mit meinem Publizieren auf Nachfrage stoße. Sie sind Blogger bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, gekennzeichnet nach dem Komma als »Professor für Literatur an der Stanford University und amerikanischer Staatsbürger«.
Hans Ulrich Gumbrecht Das Blog hat die Zahl der Leute, die mich lesen, vermutlich verzehn- oder gar verzwanzigfacht. Wenn ich als Geisteswissenschaftler ohne solche Verstärkerfunktionen publiziere, gibt es zwei Probleme: Erstens ist die Zahl der Leser erdenklich klein. Und zweitens kann ich ja keine Ergebnisse in der Weise präsentieren, wie das Naturwissenschaftler können. Wenn ein Text interessant ist, dann aufgrund von prozessualen Qualitäten unserer Tätigkeit. Nicht, dass man etwas vollkommen Neues erforscht, neue Erkenntnisse gewinnt und dann vermittelt. Sondern dass darin etwas ist, was Leser zum Denken bringt.
Ruedi Widmer Das gleicht den Zielen und Voraussetzungen eines anspruchsvollen Feuilletons.
Hans Ulrich Gumbrecht Wenn jemand, der mich öffentlich vorstellt, gemein sein will, spricht er vom »wissenschaftlichen Werk« und vom »journalistischen Werk«. Ich bin sicher kein Journalist, sondern im Nebenberuf ein Kommentator in einem journalistischen Medium…
Ruedi Widmer … der sich als aktiver Medien-Teilnehmer eben an einem Publikum orientiert und bei aller Angreifbarkeit wöchentlich über ein Thema nachdenkt, das gerade aktuell ist oder aktuell sein könnte. Mit einem Wort von Proust, das er dem Kritiker Sainte-Beuve in den Mund legte, könnte man sagen: »Ich schnitze Pfeile aus jedem Holz.«
Hans Ulrich Gumbrecht Wenn die Pfeile treffen, kann ich dazu stehen. Und es befruchtet meine Tätigkeit als Hochschullehrer.
Ruedi Widmer Wir sprachen von der Gesellschaft als einem Publikum, das immer selektiver ist, das stets die Möglichkeit hat, an Präsenz fordernden Ereignissen teilzunehmen, mit dieser Möglichkeit aber immer selektiver und pragmatischer umgeht.
Hans Ulrich Gumbrecht Dafür sind Sportveranstaltungen ein gutes Beispiel. Ich bin ein sports freak. Da fällt mir auf, dass immer wieder Leute mit ganz tollen Plätzen zehn Minuten vor dem Ende aus dem Stadion gehen. Ich frage mich dann: Warum kam er überhaupt, wenn er genau jetzt, wo die Spannung nicht größer sein könnte, nicht hier sein möchte?
Ruedi Widmer Wir hören offenbar nicht auf, uns wechselseitig zu irritieren in der Frage, was gerade wichtig ist. Kaum jemand scheint davon auszugehen, dass eigene und andere Bedürfnissen, das Hiersein und Anderswosein, noch in eine Balance zu bringen sind.
Hans Ulrich Gumbrecht Jean-François Lyotard sprach von der »Generalmobilmachung«. Ich bin überall, bin dabei, und das macht mich mobil. Das ist ja auch die Definition des Computers: Dass ich alles kann, überall »hingehen«, überall »sein« kann. Doch noch mehr verpasse ich, bin gar nicht bei mir selber, und das macht mich melancholisch. Entsprechend ist der richtige Urlaub heute ja der vom Computer.
Ruedi Widmer Wenn man es so betrachtet, brauchen wir vielleicht auch Urlaub von der Kultur, indem wir von ihrem Angebot grundsätzlich überfordert sind. Sie ist heute wie ein Buffet, zu dem alle geladen waren und dem man hinterher ansieht, dass vor allem gepickt, herausgeschnitten, angeknabbert, nicht aber gegessen wurde.
Hans Ulrich Gumbrecht Urlaub von der Kultur kann die Form haben, dass man die Kultur selber macht. Die Zahl der malenden Menschen ohne Galerist nimmt ja zu, ebenso die Zahl der Schreiber von Romanen, die keinen Verleger suchen oder finden. Das ist die Generalmobilmachung von der Produktionsseite her. Man kann das durchaus auch als Kulturleistung sehen. Jeder lernt auf seinem Niveau. Was man an technischen Mitteln braucht, steht allen zur Verfügung. Diese Werke haben Bedeutung für diejenigen, die sie produzieren und für ihre direkte Umgebung. Um im Bild zu bleiben: Ich koche für mich und meine Freunde. Eine Art Nahversorgung.
Ruedi Widmer Davon ausgehend stellt sich die Frage, wer bestimmt, was für wen wertvoll ist. Innerhalb der Kultur gibt es Teilmärkte wie zum Beispiel den Kunstmarkt, in denen tendenziell sehr wenige Kenner und Berufene die Werte bestimmen, woraus sich dann die Nachfrage des breiten Publikums erst ergibt. Und es gibt den Buchmarkt, in dem immer mehr das Gesetz der großen Zahl herrscht, d.h. die Frage, was einer relevanten Menge von Menschen gefällt.
Hans Ulrich Gumbrecht Daraus könnte man schließen, dass in solchen Märkten die ganz guten Leute nie das ganz große Geld machen…
Ruedi Widmer … wenn sie überhaupt publizieren können.
Hans Ulrich Gumbrecht Das Buch hat es insofern schwerer als andere Formen der Kunst. Es ist wohl tatsächlich einfacher, vor den großen weißen Richter-Leinwänden, wie sie im De Young-Museum in San Francisco hängen, Ahs und Ohs auszustoßen, als nur zu ahnen, worin die Leistung von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften besteht – und dieser Roman ist, im Unterschied zu fast allem, was seit 1950 geschrieben wurde, ein Stück Literatur, ohne das mein Leben nicht wäre, was es ist.
Ruedi Widmer Da sind wir wieder in der breiten Gegenwart: Musil zu kennen und zu schätzen, hat mit der Frage zu tun, wie ich geprägt wurde. Das andere, was in Ihrem Richter-Beispiel zumindest aufscheint, ist die Geschichte der Kultur-Kolonialisierung zwischen Europa und Amerika. Niemand hat das meines Wissens pointierter herausgezeichnet als Tom Wolfe in seiner Polemik »From Bauhaus to Our House«. Wolfe geht aus vom »Kolonialkomplex«, den Calverton für die amerikanische Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts als das stetige Schielen auf Europa beschrieben hatte, um dann zu schildern, wie Walter Gropius und seine Bauhaus-Mitstreiter in Amerika ankommen mit dem Anspruch, man müsse kulturell noch einmal bei Null beginnen.
Hans Ulrich Gumbrecht Eine Idee, die heute absurd wirkt.
Ruedi Widmer Und die ausgesprochen wirkungsmächtig war.
Hans Ulrich Gumbrecht Da kommen einem auch die Beispiele wie etwa Brasilia in den Sinn, der Gestus des Aufbruchs, der uns in die Zukunft führt. Verbunden mit viel Pathos. Ich kann mich da auch reinversetzen. Mir ist aber eine Figur wie Jackson Pollock näher, der für den Aufbruch und das Scheitern steht. Das war kein Gründer einer Schule, sondern ein Beispiel für die schwarzen Löcher der Intensität.
Ruedi Widmer Pollock ist in mindestens zweierlei Hinsicht interessant in der Frage von Kunst und Kolonialisierung. Erstens ist er Teil der Geschichte der bildenden Kunst im Amerika des 20. Jahrhunderts. Es begann mit der Armory Show, von der Alfred Stieglitz sagte, die europäische Kunst sei wie eine Bombe auf Amerika gefallen. Dann kam mit dem abstrakten Expressionismus und Figuren wie Pollock gewissermaßen die Wende: Amerikas »eingeborene« bildende Künstler begannen, einen starken Einfluss auf die übrige Kunst-Welt zu entwickeln. Zweitens ist Pollock einer der Künstler, für die ein Kritiker sprach. In seinem Fall Clement Greenberg, der Pollock entdeckte und seine Karriere lancierte. Es gibt Interviews, in denen Greenberg beim Kommentieren von Pollocks Aussagen so weit geht, dass er sagt, was Pollock hätte sagen müssen.
Hans Ulrich Gumbrecht Das ist der Künstler als ausführendes Organ des Weltgeistes, der plötzlich mit drip painting beginnt und nicht weiß, was ihm passiert. Und Greenberg ist das Paradebeispiel des Kritikers als Über‑Ich des Künstlers.
Ruedi Widmer Sie sprachen von schwarzen Löchern der Intensität. Damit sind ja die Zonen gemeint, die dem Geistes-Licht und der Sprache des Kritikers nicht zugänglich sind. Die symbolische Aufladung von »Schwarz« und »Weiß« spielt auch bei Tom Wolfes Schilderung der Ankunft von Gropius und Konsorten in Amerika eine Rolle. Wolfe schildert sie in einer Analogie mit einem Comic, wo ein weiß gekleidetes Paar nach dem Absturz ihres Flugzeugs mit modischen weißen Kleidern und Fallschirmen im Dschungel landet, als »weiße Götter«, umringt und sofort angebetet von Schwarzen mit knochendurchbohrten Nasen. Gemeint ist das damals durchaus weiße, aber offenbar nicht mit einem wirklich reinen Geschmack gesegnete amerikanische Bildungsbürgertum, das den »weißen Göttern« sofort die Deutungshoheit in Sachen Architektur überantwortete.
Hans Ulrich Gumbrecht Man müsste hier einiges ergänzen. Etwa, dass die »Transplantation« der von Wolfe beschriebenen deutschen Emigranten-Elite und ihr Wirken in Amerika nicht wirklich nachhaltig war; man merkt das ja auch an seiner Ironie. Oder dass es amerikanische Truppen waren, die Deutschland am Ende des zweiten Weltkriegs besetzten. Ich bin in einer Stadt unter amerikanischer Besatzung aufgewachsen, die Hälfte meiner Mitschüler waren Kinder schwarzer GI’s. Ich habe die amerikanische Kultur bewundert – wegen Künstlern wie Pollock oder Schriftstellern wie Faulkner. Auch aufgrund der Produktivität im Bereich Unterhaltung, oder in der Popmusik, im Rap usw.
Ruedi Widmer Aber Amerikas »europäisches Über-Ich« gibt es offenbar immer noch. Oder das »calvinistische schlechte Gewissen«, von dem Wolfe spricht, wenn er beschreibt, wie der Architekt immer zurückkommt und jede Spur von farblicher Verschönerung, die sich die Bewohner erlaubten, eliminierte.
Hans Ulrich Gumbrecht Dafür gibt es viele Anzeichen. Wenn der Habermas nach Stanford kommt, dann stellen sich Bataillone auf, um ihn zu begrüßen. Wenn ich sage, Rorty sei so bedeutend wie Habermas, dann bekomme ich hier Schwierigkeiten. Der einzige amerikanische Literaturwissenschaftler, der sich über die Größe der amerikanischen Literatur äußert, ist Harold Bloom. Anderseits geht es mir hier auch zu sehr um die altmodische Frage nach Ursprüngen und Wurzeln. Gemäß Friedrich Kittler hätte es ja ohne Peenemünde das Apollo-Programm nicht gegeben. Laut Kittler hat auch der Computer in Deutschland seine Ur-Wurzeln. Ich meine, dass die richtig starke kulturelle Innovation der letzten Jahrzehnte nicht aus Deutschland kommt, sondern aus dem Silicon Valley.
Ruedi Widmer Damit rückt die andere Behauptung ins Bild, diejenige der mentalen Kolonialisierung in der umgekehrten Richtung: die Europäer, die als Kultur untergehen, weil sie sich von den Produkten der amerikanischen Unterhaltungsindustrie verführen lassen.
Hans Ulrich Gumbrecht Wichtig ist hierbei, dass die USA aufgrund des ersten und zweiten Amendments der Verfassung keine Kulturpolitik betreiben. Deshalb haben amerikanische Botschaften keinen Kulturattaché.
Ruedi Widmer Umso finanzstärker und durchschlagskräftiger treten dafür seit vielen Jahrzehnten die Außenwirtschaftsabteilungen der amerikanischen Unterhaltungsbranche auf.
Hans Ulrich Gumbrecht Wenn man dagegen in Europa etwas tun will, kann man sich so verhalten wie die Verkäuferin an der Bahnhofstraße in Zürich, die offenbar nicht sicher war, ob die Tasche, die Oprah Winfrey kaufen wollte, für die Kundin zu teuer war. Wie ich hörte, hatte Oprah Winfrey den Impuls, die ganze Ladenkette zu kaufen. Es ist ja, wie Sie richtig sagen, im Kapitalismus der Konsument, der dafür sorgt, dass ein Produkt sich verbreitet und die Köpfe besetzt.
Ruedi Widmer Ein letztes Mal zurück zu Wolfe: In seiner Erzählung tauschen die Amerikaner, was Architektur betrifft, ihren eigenen und sozusagen lokalen Geschmack gegen einen besseren Geschmack ein: den International Style. Man könnte das generalisieren und sagen, dass die Selbstkolonialisierung in Geschmacksfragen für das moderne, auch für das postmoderne Individuum konstitutiv ist. Amerika wäre dann nur eine Region der Welt, in welcher die Differenz zwischen offiziellem und privatem Geschmack besonders sichtbar ist – weil das Land nicht sehr alt ist, weil man einen offiziellen Geschmack tatsächlich importieren musste, auch weil das Private in diesem Land einen ausgesprochen hohen Stellenwert hat.
Hans Ulrich Gumbrecht Ich möchte dazu ein Selbstporträt zu zeichnen, mit Seitenblick auf den Kultur-Emporkömmling Amerika: Ich komme aus einer ungebildeten Familie. Ich habe immer den Komplex gehabt, dass ich die richtig gute Kultur nicht kenne. Darunter habe ich lange gelitten und wahrscheinlich dabei meine Möglichkeiten und Kenntnisse mitunter auch unterschätzt. Und habe Dinge gar nicht als Kultur wahrgenommen, die aber Kultur waren. Für Amerika ist das beispielsweise der Jazz, der Rock, der Rap, das Surfen, das iPhone usw. Und habe mich umgekehrt sicher auch überschätzt. Für Amerika kann man sagen: Das ist auch ein huge hype of garbage.
Ruedi Widmer Erlauben Sie, analog dazu, ein Porträt Ihrer Person und Ihrer Generation. Die Generation der Intellektuellen, die nach dem Krieg in Deutschland geboren wurden, die Sie vertreten und von denen Sie in einer Laudatio auf Peter Sloterdijk sagten, sie seien die Generation der für immer Nachgeborenen, hat einen großen Weg hinter sich. Sie selber wurden sogar Amerikaner. Und dennoch sind Sie viel weniger weit gekommen, als sie ursprünglich wollten. Als 68er traten Sie an für die Aufarbeitung der Nazizeit und für eine gerechtere Welt. Irgendwann haben Sie, durch den von Ihnen beschriebenen Übergang vom historistischen Chronotop zur breiten Gegenwart, recht eigentlich den Kompass verloren. Immer waren Sie auf der Suche nach Intensität, einem erfüllten oder jedenfalls vollen Leben. Ihre Gegenwart wurde immer wichtiger im Vergleich zur Zukunft beispielsweise des Planeten. Damit sind Sie heute, und ich überspitze noch einmal, Teil der Generation, die sagen muss, wie es dieser Tage im Titel einer Kolumne der New York Times heißt: »Sorry, Kids. We Ate it All.«
Hans Ulrich Gumbrecht Da ist schon einiges Wahres dran. Es stimmt, ich wollte Intensität, und habe sie auch gefunden. Ich kann es auf Spanisch am besten sagen: »He vivido mucho.« Und es stimmt auch, dass wir ursprünglich politisch viel im Sinn hatten und insofern auch an den Fortschritt glaubten. Die Gesellschaft war für uns wie ein Schiff, das auf hoher See eine Panne hat und das wir mit allen Kräften wieder flott machen wollten. Irgendwann wurde klar, dass es das Schiff, auf dem die Menschheit in eine aufgeklärte Zukunft reist, nicht gibt.
Ruedi Widmer Sie lebten in einem Drama, um irgendwann zu merken, dass es für die meisten Leute nie ein Drama war.
Hans Ulrich Gumbrecht Ja. Wie der Igel und der Hase. Wir haben uns abgemüht, und die anderen waren immer schon da. Wenn man das entdeckt, ist es zwangsläufig so, dass man in diesem Sinn postdramatisch zu funktionieren beginnt. Die eigenen Kinder und Enkel bleiben wichtig, auch die Zukunft des Planeten, aber irgendwie glaubt niemand mehr daran, darauf entscheidend Einfluss nehmen zu können.
Das Gespräch wurde am 11. Oktober 2013
in Stanford geführt.
Laienherrschaft
18 Exkurse zum Verhältnis von Künsten und Medien
broché, 320 pages
Inkl. Mit Zeichnungen von Yves Netzhammer
PDF, 320 pages
Die vielfach geforderte Freiheit des Einzelnen, Kunst nach eigenem Gutdünken zu rezipieren, zu genießen, aber auch zu produzieren und damit zu definieren, ist heute weithin Realität geworden. Wir leben im Zeitalter der Laienherrschaft in den Künsten und den mit ihnen verbundenen Medien: einem Regime, das auf der Dynamik der Massen-Individualisierung und dem Kontrollverlust etablierter Autoritäten beruht, in dem jede Geltung relativ ist und die Demokratisierung in ihrer ganzen Ambivalenz zum Tragen kommt.
Die Essays und Interviews des Bandes kreisen um die Figur des Kulturpublizisten. Wie wirken Ökonomisierung und Digitalisierung auf sein Selbstverständnis ein? Wie sieht es mit der gegenwärtigen Rollenverteilung zwischen Publizist und Künstler aus? Wie verhält sich der Publizist gegenüber dem immer eigenmächtiger auftretenden Rezipienten? Der zeitgenössische Kulturpublizist tritt als Diskursproduzent und als Weitererzähler flüchtiger Wahrnehmung auf; doch auch als Interpret, der als Leser und in diesem Sinne als »Laie« seine Stimme entwickelt – jenseits aller Reinheits- und Absicherungsgebote, die etwa die Wissenschaft aufstellt. Eine Kultur des Interpretierens als eine von der Laienperspektive her gedachte Kultur der Subjektivität, der Aufmerksamkeit, der Sprache und der Auseinandersetzung mit den Künsten ist in Zeiten der Digitalisierung eine unschätzbar wertvolle, omnipräsente und zugleich bedrohte Ressource.
Mit Zeichnungen von Yves Netzhammer.