Joseph Mitchell für die Westentasche

Joseph Mitchell

Old Mr. Flood

Traduit par Sven Koch et Andrea Stumpf

in: Old Mr. Flood. Geschichten von Fischessen, Whiskey, Tod und Wiedergeburt, p. 11 – 42

Mein Bekannter Mr. Hugh G. Flood, ein zäher, dreiundneunzigjähriger ehe­ma­liger Abbruchunternehmer mit ­schottisch-­­irischen Wurzeln, erklärt gerne, dass er felsenfest entschlossen ist, bis zum Nachmittag des 27. Juli 1965 zu leben, wenn er hundertfünfzehn Jahre alt wird. »Mehr will ich gar nicht«, sagt er. »Ich will nur hundertfünfzehn werden. Das reicht mir.« Mr. Flood ist klein und runzelig. Seine eisblauen Augen sind wachsam und sein Gesicht ist rot, knochig und glatt­rasiert. Er ist altmodisch gekleidet. Für gewöhnlich trägt er einen hohen steifen Kragen, ein rot-weiß gestreiftes Hemd, einen Anzug aus Wollserge und eine Melone. Über seiner Weste hängt eine silberne Uhrkette. Am Revers steckt eine Blume. Er bewohnt ein Zimmer im Hartford House, einem verschlafenen Hafenhotel in der Pearl Street Nr. 309, und immer wenn ich in der Nähe des Fulton Fish Market bin, schaue ich dort vorbei, um zu sehen, ob er noch lebt.


Viele alte Leute söhnen sich mit der Gewissheit des Todes aus und werden gelassen; Mr. Flood nicht. Dafür gibt es drei Gründe. Erstens lebt er sehr gern. Zweitens entstammt er einer alten ­Baptistenfamilie und hat eine nagende Angst vor dem Jenseits, die nicht besser wird durch den Umstand, dass ihm die biblischen Schilderungen des Himmels ebenso bedrohlich erscheinen wie die der Hölle. »Ich will eigentlich weder dahin noch dorthin«, sagt er. Er grübelt oft über Religion und liest so gut wie jeden Tag ein Kapitel aus der Bibel. Dennoch geht er nur am Ostersonntag in die Kirche. An diesem Tag trinkt er zum Frühstück mehrere Scotch, steigt dann in ein Taxi und fährt zu einer Baptistenkirche in Chelsea. Danach ist er mindestens eine Woche lang bedrückt und schweigsam. »Ich bin ein gottesfürchtiger Mensch«, sagt er, »und ich glaube an Jesus Christus, gekreuzigt, gestorben und begraben, auferstanden von den Toten und aufgefahren gen Himmel, aber mehr als eine Predigt im Jahr ertrag ich nicht.« Drittens ist er Ernährungstheoretiker – er nennt sich selbst Fischköstler – und fühlt sich verpflichtet, zur Bestätigung seiner Theorie ein spektakuläres Alter zu erreichen. Er ist überzeugt, dass das Essen von Fleisch und Gemüse das Leben verkürzt, und behauptet, das einzig vernünftige Nahrungsmittel für Menschen, ­insbesondere für ­Menschen, die hundertfünfzehn Jahre alt werden wollen, sei Fisch.


Mr. Flood isst Fisch und Schalentiere nicht nur gern, er hält sie auch für ein Lebenselixier. »Wenn ich einen Hummer oder so einen zarten Tintenfisch von der Westküste verdrückt hab«, sagt er, »fühl ich mich, als hätt ich vom Jungbrunnen getrunken.« Mit Appetit isst er alles, was aus dem Meer kommt, unter anderem Seeigelrogen, Kugelfischschwänze, Blitzschnecken und Scheunentor-Rochen. Besonders gern mag er ein traditionelles Bostoner Frühstücksgericht – gebrate­ne Dorschzungen, -bäckchen und -schwimmblasen, ein gallertartiges Organ am Rückgrat des Fisches. Je ungewöhnlicher ein Gericht ist, desto besser. Wenn er etwas isst, vor dem die meisten Leute zurückschrecken würden, fühlt er sich überlegen. Allerdings besteht er auf einer möglichst einfachen Zubereitung. Seiner Meinung nach gibt es nur vier erstklassige Fischrestaurants in der Stadt – Sweet’s und Libby’s in der Fulton Street, Gage & Tollner’s in Brooklyn und Lundy’s in Sheepshead Bay –, und selbst die, sagt er, meinen es manchmal zu gut. Daher isst er meistens im Sloppy Louie Morino’s, einem geschäftigen Speise- und Trinklokal in der South Street gegenüber vom Fulton ­Market, das fast ausschließlich von Fischgroßhändlern besucht wird. ­Üblicherweise geht Mr. Flood, sobald er mittags ­Hunger kriegt, zum Stand eines befreundeten Fischgroßhändlers und inspiziert etwa eine halbe Stunde lang die Bottiche. Schließlich sucht er sich einen Fisch aus oder einen Aal oder eine Krabbe oder einen Rochenflügel oder was an diesem Tag am besten aussieht, bezahlt es, trägt es, ohne es sich in Papier einschlagen zu lassen, zu Louie’s und setzt dem Koch genau auseinander, wie er es zubereiten soll. Mr. Flood und der Koch, ein mürrischer alter Genueser, sind gute Freunde. »Ich hab mir viele Fischköche angesehen«, sagt Mr. Flood, »und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass die alten Italiener die besten sind. Dann kommen alte Farbige, dann alte, bösartige Yankees und dann alte betrunkene Iren. Alt müssen sie sein; es dauert beinahe ein Leben lang, bis man was ohne Brimborium machen kann. Selbst der Herd muss alt sein. Wenn der Koch ein übler Trunkenbold ist, umso besser. Ich glaub nicht, dass ein Abstinenzler Fisch zubereiten kann. Gut, wenn es ein bösartiger alter priemkauender Abstinenzler ist, vielleicht schon.«


Mr. Floods Einstellung zu Fischen und Meeresfrüchten ist nicht nur mystisch. »Fische«, sagt er, »sind die einzigen Fressalien, an denen die Wissenschaftler noch nicht rumgepfuscht haben. Die Flunder, die wir heute essen, hat nicht ein Vitaminfitzelchen mehr als die Flunder, die unser Urururopa gegessen hat, und sie schmeckt auch noch genauso. Alles andere wurde so lange verbessert und verbessert, bis man’s nicht mehr essen kann. Eier zum Beispiel. In meiner Kindheit auf Staten Island, da fraßen Hennen Hafer und Grashüpfer und die Reste vom Tisch und alles, was sie aus der Erde kratzen konnten, und ein Teller Rührei war ein Gedicht. Dann machten die Wissenschaftler einen Spezialbrei fürs Eierlegen aus alten Maiskolben und sterilisierter Buttermilch, und wenn man heute Rührei bestellt, kriegt man einen Teller gelben Papp. Oder Äpfel. Früher schmeckte ein Apfel noch nach was. Dann kamen die Wissenschaftler und erfanden die chemische Befruchtung speziell für Apfelbäume, und die Äpfel wurden groß und glänzend rot und schön und schmeckten nach rein gar nichts mehr. Was Gemüse angeht, daran haben sie so lange rumgedoktort, bis es das reinste Gift wurde. Kein Wunder, dass es zwei Drittel der Bevölkerung am Magen hat.«


Mit Ausnahme von Brot und Butter, Saucen, Zwiebeln und Ofenkartoffeln hat Mr. Flood seit 1885 kaum etwas anderes gegessen als Fisch und Meeresfrüchte, und er erfreut sich bester Gesundheit. Als über Neunzigjähriger, der von Kindheit an bis zum achtzigsten Lebensjahr bei Wind und Wetter hart gearbeitet hat, ist er eigentlich ein Phänomen; er ist noch in Besitz seiner eigenen Zähne, hört nicht schlecht, trägt keine Brille, ist meistens klar im Kopf, und sein Appetit ist so gut, dass er gleich nach dem Mittagessen anfängt zu überlegen, was es zu Abend geben wird. Allerdings ist er ein wenig wacklig auf den Beinen und geht vorsichtig, aber einen Stock benutzt er nur, wenn Schnee auf den Bürgersteigen liegt. »Angst hab ich nur vor einem Sturz«, sagte er kürzlich. »Wenn ich mir was breche, würde mir das wahrscheinlich den Rest geben. Sonst mach ich mir keine Sorgen um meine Gesundheit. Gegen normale Bazillen bin ich immun, ich krieg nicht mal ’ne Erkältung, seit 1912 hab ich keine Erkältung mehr gehabt. Und die hatte ich damals nur, weil ich auf Sauftour war und es an diesem Abend mitten im Winter wie aus Kübeln geschüttet hat und meine Schuhe Löcher hatten und ich nasse Füße bekam, und ein, zwei Mal hab ich das Gleichgewicht verloren und bin im Rinnstein gelandet, und irgendwo unterwegs hatte ich meinen Hut verlegt, wo ich mir doch gerade die Haare hatt schneiden lassen, und mindestens eine Stunde bin ich in einer zugigen Kneipe gestanden, und der arme Kerl neben mir hat in einer Tour geniest, und als ich nach Hause kam, hab ich Idiot mich in ein Bett gelegt, das neben einem offenen Fenster stand, und bin in meinen nassen Kleidern und Schuhen eingeschlafen. Noch dazu war ich die Nacht davor in der Eisenbahn gesessen und hatte kein Auge zugemacht und war sowieso schon angeschlagen. Wenn der liebe Herrgott so gut ist und mich vor Unfällen bewahrt, vorm Stolpern auf Treppen, vor diesen motorisierten Teufelskarren, die im Dunkeln auf einen zurasen, vor Knochenbrüchen, dann werde ich leicht hundertfünfzehn.«


Mr. Flood hält nicht viel von Ärzten und macht einen großen Bogen um sie. Viele Abende verbringt er in einem bequemen alten Windsorstuhl in der Bar des Hartford House, trinkt Scotch und Leitungswasser und unterhält sich lautstark, und aus unerfindlichen Gründen wechselt er spätabends manchmal zu Brandy und wacht morgens mit einem fürchterlichen Kater auf – was er Katzenjammer nennt. Dann geht er rüber zu S. A. Brown’s in der Fulton Street Nr. 28, einer durchdringend riechenden kleinen Drogerie, die es seit Präsident Thomas Jeffersons zweiter Amtszeit gibt und die darauf spezialisiert ist, Arzneischränkchen für Fischerboote zu bestücken, und kauft eine Flasche von deren Hausmittel Dr. Brown’s Next Morning, das auf dem Fischmarkt einen hervorragenden Ruf genießt. Alle anderen Leiden, seien sie körperlicher oder geistiger Natur, bekämpft er mit rohen Austern. Einmal wandte sich in der Bar des Hartford ein zittriger Mann in den Siebzigern, der auch in dem Hotel wohnte, an Mr. Flood und sagte: »Letzte Woche hab ich Geburtstag gehabt, Flood. Ich werd alt. Lang werd ich’s nicht mehr machen.«


Mr. Flood schnaubte verärgert. »Nun, bei Gott, ich schon«, sagte er. »Ich hab ja erst angefangen.«


Der zittrige Mann seufzte und sagte: »Ich fühl mich völlig abgeschlagen. Ich werd nach Uptown zu meinem Arzt fahren.«


Erneut schnaubte Mr. Flood. »Ach, sei still«, sagte er. »Vergiss deinen Arzt! Ich sag dir, was du tust. Du gehst jetzt rüber in Libby’s Austernhaus und sagst dem Mann, dass du welche von seinen großen Austern essen willst. Setz dich nicht hin. Stell dich an den schönen Marmortresen, den sie da haben, wo du zusehen kannst, wie der Mann sie mit einem Messer öffnet. Und sag ihm, dass du das Austernwasser trinken willst, dann wird er sie auf der bauchigen Schalenhälfte öffnen, damit der Saft nicht ausläuft. Und sieh zu, dass du die großen kriegst. Nimm dir so große, dass du den Kopf zum Schlucken zurücklegen musst, solche, die in den meisten Restaurants nur gebraten werden oder in Eintöpfe kommen; Gott vergib ihnen, sie wissen’s nicht besser. Frag nach Robbins Islands, Mattitucks, Cape Cods oder Saddle Rocks. Und tu nichts von der roten Sauce drauf, dieser Cocktail-Sauce, diesen zusammengepanschten Küchenabfällen. Frag den Mann nach einer halben Zitrone, stich ein, zwei Mal rein, damit der Saft rauskommt, und drück sie über den Austern aus. Und die erste, die er öffnet, nimmst du und riechst dran, so wie man an einer Rose riecht oder einem Brandy. Der Geruch von Salz und Meer macht dir den Kopf frei und weckt deine Lebens­geister. Und iss nicht nur sechs; nimm dir Zeit und iss ein Dutzend, iss zwei Dutzend, iss drei Dutzend, iss vier Dutzend. Dann lässt du dem Mann ein schönes Trinkgeld da, kaufst dir eine gute Zigarre, setzt dir den Hut schief auf und spazierst zum Bowling Green. Schau zum Himmel rauf! Ist er nicht blau? Und schau den Mädchen nach, die klapperdiklapp auf ihren niedlichen kleinen Füßen an dir vorbeilaufen! Sind es nicht die hübschesten Mädchen, die du je gesehen hast, die fidelsten, fröhlichsten, glücklichsten? Schämst du dich denn gar nicht, auch nur dran zu denken, dein gutes Geld bei einem dummen Arzt zu lassen? Aber wenn du unterwegs bist, solltest du aufpassen. Du wirst dich so stark fühlen, dass du Fremden auf den Rücken haust, ein Fenster eintrittst oder dich mit einem Polizisten in die Haare kriegst oder auf die Ladeklappe eines Lasters springst und einfach mitfährst.«


1930 verkaufte Mr. Flood sein florierendes Abbruchunternehmen, die H. G. Flood Demolition & Salvage Co., Inc., da war er achtzig. Anderthalb Jahre ­später starb Mrs. Flood, seine zweite Frau. Gleich nach der Beerdigung gab er seine Wohnung in Chelsea auf, lagerte seine Möbel ein und zog ins Hartford, ein Hotel, das er seit vielen Jahren als ganz und gar friedlichen Ort kannte und schätzte. »Ich hatte wirklich Ruhe nötig, als ich hier einzog«, sagte er einmal. »Meine Frau war eine Heilige, Gott hab sie selig. Sie war grundsätzlich gegen alles, was Spaß macht. Jedes Mal wenn ich mit einem Rausch heimkam, ist sie über mich hergefallen. Nicht dass sie mir eins überbraten wollte. Sie stand einfach in der Tür, warf ihren Kopf in den Nacken und heulte. Sie heulte aus voller Kehle, unvorstellbar, dass aus einem einzelnen menschlichen Mund ein solcher Radau kommen konnte. Manchmal dachte ich, mir platzt das Trommelfell. Einmal sagte ich zu ihr: ›Mary, meine Liebe. Ich danke Gott, dass du nicht trinkst. Wenn du schon nüchtern so einen Lärm veranstaltest, was würdest du dann erst nach einem Gläschen Gin machen?‹«


Das Hartford befindet sich im ältesten Teil New Yorks, an der Südwestecke der Kreuzung von Pearl Street, Ferry Street und Peck Slip. Die Third-Avenue-Hochbahnstrecke zur South Ferry führt an der Pearl Street daran vorbei. Ein paar Blocks weiter südlich ist der Fischmarkt, und einen Block weiter im Norden liegt The Swamp, das Gerberviertel. Die Zimmer kosten drei Dollar fünfzig bis vier Dollar fünfzig die Woche. Mr. Flood bezog eins der Zimmer für vier Dollar fünfzig und war stets zufrieden damit. »Schauen Sie mich an«, sagte er, »für so einen alten, pensionierten raubeinigen Witwer wie mich ist ein bescheidenes Hotel, wo man mit anderen seines Schlags zusammen ist, genau das Richtige. Von meiner ersten Frau hab ich eine Tochter, die ist verheiratet und hat mir angeboten, bei ihr einzuziehen. Gott sei Dank bin ich das nicht! Wie ich zu ihr gesagt hab: ›Louise, in einem Monat hast du mich bis obenhin satt und umgekehrt. Da kannst du gar nichts machen. So ist der Lauf der Welt. Du wirst dir wünschen, dass ich tot und aus dem Weg bin, und aus reiner Gefälligkeit würd ich’s womöglich auch tun und sterben.‹« Mr. Flood ist wohlhabend und könnte sich zweifellos das Waldorf-Astoria leisten, aber alles Neue deprimiert ihn. Wie die meisten alten Leute fühlt er sich am wohlsten, wenn er umgeben ist von Dingen, die eine lange Zeit überdauert haben. Das Hartford ist das älteste Hotel der Stadt, das fortlaufend in Betrieb ist, und genau das gefällt ihm. 1836 wurde es unter dem Namen Eastern Pearl Street House eröffnet; in den späten Sechzigern wechselte es den Namen, als Dampfschiffe aus Hartford und anderen Hafen­städten Neuenglands an dem nahegelegenen Peck Slip anlegten. Das fünfstöckige Gebäude sieht aus wie eine Schuhschachtel und steht inmitten von Fabriken und Leder- und Gewürz-Lagerhäusern, und abends ist der freundliche Lichtschein aus der Lobby, die zugleich als Bar und Speisesaal dient, das einzige Licht im Umkreis von mehreren Blocks. In das dicke Glas der Eingangstür ist ein Blumenkorb geschliffen, gegenüber der Bar steht eine Reihe wackliger Stühle, die Preisliste ist mit Kreide auf eine große Tafel an der Speisesaalwand geschrieben, und am Fuß der Treppe befindet sich eine Leiste aus Eichenholz, an die die Bewohner ihre Schlüssel hängen, wenn sie morgens herunterkommen. An jedem der schweren Schlüssel hängt ein gezahnter, beinahe handtellergroßer Messinganhänger. Es gibt keinen Aufzug. Auf dem Regal hinter der Bar sind einige Fotografien des Hotels. Eine aus dem Jahr 1901 zeigt Buffalo Bill und ein paar Indianer in Wildleder mit Fransen, die an einem großen runden Tisch im Speisesaal Hummer essen. An den Rand hat jemand mit Krakelschrift geschrieben: »Col. Buffalo Bill und 1 Dtzd. Rothäute gerade mit dem Boston-Boot gelandet, blieben drei Tage, gute Esser, Hummer zu jeder Mahlzeit, die ganze Nacht auf, nahmen das Hotel in Beschlag.«


Im Moment hat das Hartford etwa fünfundvierzig Bewohner, überwiegend ältere abgemusterte Seeleute, die von ihren Ersparnissen oder Renten leben. Manche von ihnen verlassen das Haus wochenlang nicht, nicht einmal für einen kleinen Spaziergang. Sechs waren Handelsschiff-Offiziere, vier waren Frachtschiffer auf dem Hudson River, zwei arbeiteten auf Muschel­fischern, einer besaß zwei Hafenschlepper, einer be­trieb Maifischfang mit drei Netzreihen im Hudson vor Edge­water, New Jersey, einer hatte einen Köderkahn in Sheepshead Bay und einer war Kapitän auf einem Wadenfänger der alten Long-Island-Sound-Industriefisch-Flotte, die Menhaden für Düngemittelfabriken fing. Einige sind mürrisch und in sich gekehrt und haben sich noch nach Jahren nicht an das Nichtstun gewöhnt. Die meiste Zeit verbringen sie still in ihren Zimmern. Etwa ein Dutzend von ihnen sind bierselige Schwadroneure mit blühender Phantasie, und Mr. Flood ist oft in ihrer Gesellschaft. In der Morgendämmerung stehen sie auf, hasten runter in die Bar und fangen während des Frühstücks an zu schwatzen, und wenn die Bar gegen Mitternacht schließt, sind sie immer noch da und schwatzen. Bevor der Barmann von der Nachtschicht heimgeht, muss er meistens zweien oder dreien die Treppe hinaufhelfen und sie ins Bett bringen; er hält das für seine Pflicht. Unter den Bewohnern sind einige Miesepeter, aber das stört die Besitzerin, Mrs. James Donald, nicht. Sie habe festgestellt, sagt sie, dass es leichter ist, mit einem Miesepeter zurechtzukommen, als mit einem, der Tag für Tag ein Lächeln auf dem Gesicht trägt. Mrs. Donald ist eine adrette freundliche Frau hugenottisch-deutscher Abstammung. Sie erbte das Hartford von ihrem ersten Ehemann, ­Diedrich Bloete, der es 1901 erworben hatte. Einer ihrer ­Brüder, Gus Trein, ist der Geschäftsführer. Ihr jetziger Ehemann, ein pensionierter Polizeibeamter, ist für die Bar zuständig.


Mr. Floods Zimmer liegt im obersten Stock. Das Mobiliar erinnert ihn angenehm an vergangene Zeiten; es gibt ein Messingbett, einen Waschtisch mit Krug und Schüssel, einen Korbschaukelstuhl und einen Tisch mit Marmorplatte. »Die Möbel hier drin sind ungefähr so alt wie ich«, sagte er einmal. Eine Wand hat er mit Reklameplakaten geschmückt, die für die Auslage in Fischläden bestimmt waren und die er im Büro des ­Fishery Council bekommen hatte, der Fischereiaufsicht. Darunter befanden sich folgende Werbesprüche:


Bringt hiesigen Fisch


jeden Tag auf den Tisch!


Frische Makrele


macht munter und kregel


Austern aus heimischer Zucht


auf der ganzen Welt gesucht


An einer anderen Wand, direkt über dem Kopfende des Bettes, hat Mr. Flood eine Karte von Staten Island befestigt. Er stammt von dort. Einmal erkundigte ich mich nach seiner Jugend. Er runzelte die Stirn und sagte: »Mein Junge, ich rede ja gern, aber über die Vergangenheit red ich nicht gern. Ist ein ­untrügliches Zeichen, dass man senil wird.« Zu einer anderen Ge­legenheit sagte er jedoch: »Ich bin Staten Islander in der dritten Generation. Ich komm aus Pleasant Plains, einem Dorf am Südufer. Mein Großvater und mein Vater waren Zimmerleute. Ich hatte einen Onkel in Brooklyn, der Bauunternehmer war – Wohnhäuser und kleine Fabriken –, und ich hab als Junge bei ihm angefangen zu arbeiten. Mein Onkel hatte ein großes Herz. Einmal bekam ich mit, wie er der Familie eines armen Kerls, der fünfunddreißig Jahre lang seine Bücher geführt hatte und ohne Sterbegeld gestorben war, einen Fünf-Dollar-Schein zugesteckt hat. Ich hab, glaub ich, sechzehn Jahre für ihn gearbeitet, aber dann ist bei mir endlich der Groschen gefallen, und ich hab gekündigt und wurde Abbruchunternehmer. Ich glaube, ich hab aus Boshaftigkeit auf diese Branche umgesattelt.«


Mr. Floods Zimmer hat ein Fenster mit Blick nach Süden, und von dort aus sieht er den vergoldeten Blaubarsch von der Wetterfahne auf dem Dach des ­großen grauen Schuppens des ­Fischhändlerverbandes Fulton Fish Mongers Association, eine schöne Aussicht, wie er findet. Mr. Flood ist sehr auf sein Äußeres bedacht; jeden Tag lässt er sich rasieren, seine Anzüge sind stets frisch gebügelt und seine Melone ist selten staubig. Sein Zimmer dagegen ist schrecklich unordentlich. Nur ­gelegentlich lässt er das ­Zimmermädchen ­saubermachen. Über dem Waschtisch hängt ein wasserfleckiger Kalender von 1932 mit sämtlichen Monatsblättern, selbst das Blatt für Januar ist noch da. Auf der Marmorplatte des Tischs stehen vier Traubenkörbe voller Muschelschalen. Er sammelt Muschelschalen. Eins seiner liebsten Besitztümer sind die Schalen einiger Süßwassermuscheln. Er hat sie von einem Karpfenverkäufer im Peck Slip; der hatte sie einem Karpfen­fischer vom Tennessee River abgekauft, der nebenher Muscheln für die Herstellung von Perlmuttknöpfen fischt. Mr. Flood besitzt Schalen von neun Muschelarten. Jede hat neben dem lateinischen Namen auch einen Handelsnamen. »Ich habe eine Schweinezehe, eine Pistolengriff, eine Fersenspalter, eine Warzenrücken, eine Ahornblatt, eine Affengesicht, eine Rosenblüte, eine Hasenpfote und eine Schmetterling«, sagt er stolz. »Ich hatte auch eine Waschbrett, eine Lady-Finger und eine Mauleselsohr, aber eines Abends kam ich in schlimmer Verfassung heim und bin rumgeschwankt und konnte die Lampenschnur nicht finden und sie lagen auf dem Boden, und da bin ich draufgetreten.« Um Mr. Floods Schaukelstuhl herum sind immer Dinge verstreut. Bei meinem letzten Besuch lagen dort ein hölzerner Garnelenkescher, in den er seine Zigarrenasche abklopft, eine Art Fischmesser, ein Schlitzer genanntes Fischmesser, ein Handbesen, eine Bibel, zwei Mark-Twain-Bände (er besitzt eine zehnbändige Ausgabe in Großschrift), ein Album mit vergilbten Zeitungsausschnitten von Heywood Brouns Kolumne aus dem World-Telegram, eine Ausgabe der Zeitschrift War Cry, die von der Heilsarmee an den Straßenecken verkauft wird, und ein altes, schön geschriebenes Nachschlagewerk der amerikanischen Fischereibehörde, Fishes of the Gulf of Maine, das er vor Jahren bei der Bundesdruckerei bestellt hatte und in dem er immer wieder gerne liest. Er kennt das Verhalten und Verbreitungsgebiet von Hunderten von Fischen, Weichtieren und Krebsen; von vielen hat er sich sogar die lateinischen Namen gemerkt. Twain und Broun sind Mr. Floods Lieblingsautoren. »Wenn ich in den Himmel komm«, sagte er einmal, »dann besorg ich mir an meinem ersten Samstagabend da oben, so die Geschäftsführung nichts dagegen hat, eine ­Flasche guten Whiskey und besuch Mr. Twain und Mr. Broun. Und wenn sie nicht da oben sind, dann bitte ich drum, an den anderen Ort verlegt zu werden.« Gleich ­darauf fügte er beunruhigt hinzu: »Das mein ich natürlich nicht ernst. Ich red nur, weil ich mich gern reden hör.«


Mr. Flood geht unter der Woche jeden Morgen auf den Fischmarkt. Er steht um fünf auf, trinkt im Speisesaal des Hartford eine Tasse schwarzen Kaffee, steckt sich eine Zigarre an und spaziert gemächlich an den Fischständen, den Austernbuden, den Filetierhäusern, den Räucherspeichern und den Piers entlang. Angekommen an der Fulton Street fühlt er sich durch den Trubel wie belebt. Er strafft die Schultern, atmet die salzige Luft ein und reibt die Hände aneinander. Der strenge Geruch der Fischhäuser ist ihm nicht unangenehm. »Jetzt verrat ich Ihnen mal ein Geheimnis«, sagte er einmal. »Der Geruch des Fulton Fish Market lässt eine Erkältung in zwanzig Minuten verschwinden. Keiner, der auf dem Markt arbeitet, ist je erkältet. Die wissen gar nicht, was das ist. Die Fischhändler haben Angst, dass sich das rumspricht. Es ist sowieso schon zu voll hier, und wenn die Leute auch noch herkommen, um ihre Erkältungen zu kurieren, kann man sich nicht mehr umdrehen.« Wenn er seinen Rundgang macht, trägt er eine lange weiße Schürze und kniehohe Gummi­stiefel wie einer der Fischgroßhändler. Die Gassen dort werden genau wie die Böden der Stände ständig abgespritzt, und er hält sich gewissenhaft an den alten Marktspruch: »Trockenen Fußes wirst du nicht ins Grab steigen.« Zuerst geht er zu den Piers und sieht zu, wie die Trawler, die großen und kleinen Schleppnetzboote und Muschelfischer entladen werden. Die Fischer behandeln ihn respektvoll und beantworten alle seine Fragen. Offenbar halten sie ihn für einen Behördenvertreter. Sie nennen ihn »Chef« oder »Pop«. Eines Morgens stand ich mit Edmond Irwin, dem Vorsteher der Fischereiaufsicht, auf dem ­Fulton Street Pier, als Mr. Flood angeschlendert kam. Er blickte auf einen Trawler hinunter, der gerade ent­laden wurde, und rief: »Hej, Käpt’n, kommen Sie mal her!« Der Kapitän hielt in seiner Tätigkeit inne, lief brav über das Deck und sah zu Mr. Flood hoch, der ihn fragte: »Was haben Sie heute, Käpt’n?«


»Nichts Besonderes, Sir«, sagte der Kapitän. »Nur eine Ladung Flundern – Winterflundern und Gelbschwanzflundern.«


»Sehr schön, Käpt’n«, sagte Mr. Flood. »Aus dem Fang lassen sich ja bestimmt fünftausend Seezungenfilet-Portionen machen. Wo wart ihr denn draußen?«


»Wir war’n nördlich von Brown’s Bank.«


»Oben in The Gully?«


»Jawohl. Oben in The Gully.«


»Sehr schön, Käpt’n«, sagte Mr. Flood und rieb sich strahlend die Hände. »Ganz ausgezeichnet!«


Mr. Flood ging weiter den Pier hinunter. Offen­kundig verwirrt, starrte ihm der Kapitän einen Moment nach, dann wandte er sich an Mr. Irwin und sagte: »Wer zum Teufel war das denn, Ed? Ist der vom Amt oder so?«


»Schwer zu sagen«, erwiderte Mr. Irwin. »Ich weiß nur, dass er ein alter Mann ist, der durchs Fischessen hundertfünfzehn Jahre alt werden will.«


»Du meine Güte!«, sagte der Kapitän. »Wie viel hat er denn schon geschafft?«


»Er ist weit über neunzig«, sagte Mr. Irwin.


»Jesus!«, sagte der Kapitän. »Na, man lernt nie aus. Vielleicht sollt ich auch mit dem Fischessen anfangen.« 


Nachdem Mr. Flood die Boote inspiziert hat, geht er in den Schuppen des Fischhändlerverbandes. Er hört dem blasphemischen Gefeilsche zwischen den Fischhändlern und den Einkäufern der Fischläden zu, stellt hunderte Fragen, sieht in Eimer und bewundert hier einen Wolfsbarsch und da einen Roten Schnapper, wiegt ihn in der Hand und trägt den neuesten Klatsch von Stand zu Stand. Er ist so neugierig, dass einige Fischhändler woanders hinschauen, wenn sie ihn kommen sehen, andere behandeln ihn jedoch respektvoll und stellen ihn Besuchern manchmal als Bürgermeister des Fischmarkts vor. Schließlich verlässt er den Schuppen und betritt eines der Filetierhäuser an der South Street und holt sich einen Kübel mit Innereien oder Fischabfällen, um damit einige einbeinige Möwen zu füttern, deren er sich angenommen hat. Vom Fischmarkt lebt ein Schwarm mehrerer hundert Möwen, und darunter sind immer auch ein paar verkrüppelte. »Das liegt daran«, sagt Mr. Flood, »dass Seemöwen keine Ahnung von Ampeln haben. Der Teil der South Street, der durch den Markt führt, ist mit Kopfstein gepflastert. Und morgens fallen gelegentlich ein paar Fische, manchmal auch ein ganzer Haufen, von einem Laster und werden zermatscht und von den Reifen in die Pflasterritzen gedrückt. Wenn die Möwen das sehen, werden sie ganz verrückt. Sie warten, bis der Verkehr vor einer roten Ampel zum Stehen kommt, und dann schießen sie pfeilschnell vom Himmel runter und ­kratzen die Fische mit ihren Schnäbeln und Krallen aus den Ritzen. Die sind wirklich halsstarrig, diese Vögel. Sie sind so beschäftigt, dass sie’s nicht mitbekommen, wenn die Ampel auf Grün schaltet, und plötzlich, potz Blitz, fährt ein schwerer Laster über sie drüber. Manche sind gleich tot. Andere kommen mit gebrochenen Flügeln davon und humpeln weg und verstecken sich irgendwo und verhungern. Die, die nur ein Bein verlieren, leben weiter, aber die anderen Möwen hacken nach ihnen und kratzen sie und behandeln sie wie Aussätzige, und sie haben keine Freude mehr am Leben.« Die verkrüppelten Möwen sind äußerst misstrauisch, aber Mr. Flood hat sich mit einigen anfreunden können. Wenn er mit einem Kübel Fischabfälle auf den Pier läuft, dann stoßen sie hinab und scharen sich um ihn. Ein oder zwei fressen ihm aus der Hand.


Gegen neun ist Mr. Flood mit dem Möwenfüttern fertig. Nun ist es Zeit für den ersten Drink des Tages. Er hält nichts davon, allein zu trinken – dann fängt man an, Selbstgespräche zu führen, sagt er –, also spaziert er auf der Suche nach Gesellschaft weiter die South Street hinunter. Oft geht er zu den Süßwasserständen des Marktes im Peck Slip und lädt Mrs. Birdy Treppel, eine alte Fischfrau, in ein Lokal unweit ihres Standes ein, um einen zu heben. »Ich könnt tatsächlich was brauchen«, sagt sie für gewöhnlich, »muss mich wieder auftauen.« Mr. Flood und Mrs. Treppel sind alte Bekannte. Er ist fasziniert von ihr, weil ihr immer kalt ist. Mrs. Treppel handelt mit verschiedenen Süßwasserfischen, unter anderem Karpfen, Heringsmaränen, Hecht, Büffelfisch und Döbel, und ihr Stand, drei Kisten, zum Teil auf dem Bürgersteig unter einer Abdeckplane und zum Teil im Rinnstein des Peck Slip, befindet sich gleich unterhalb der Water Street und ist dem Wind vom Hafen her ausgesetzt. »Ich hab einen ausgezeichneten Platz«, sagt sie, »direkt an der Kreuzung von Influenza und Lungenentzündung.« Im Winter lässt Mrs. Treppel einen Helfer die Kunden bedienen, während sie neben dem Stand in einer alten Öltonne ein Feuer mit Fassdauben und ausgemusterten Fischkisten am Brennen hält. Sie sagt, dass es kaum hilft. Zitternd steht sie dicht am Feuer, die Hände in ihre zu einem Muff aufgerollte Schürze gesteckt. Sie hat die Angewohnheit, nervös auf und ab zu hüpfen und mit den Füßen aufzustampfen. Das macht sie nicht nur im Winter, sondern auch im Sommer; offenbar kann sie nicht damit aufhören. Sie sieht enorm dick aus, meint aber, dass das täuscht. »In Wahrheit bin ich ein ­kleines, dünnes Ding, nichts als Haut und Knochen«, sagt sie, »aber ich hab zwölf Kleiderschichten übereinander an – dreizehn, wenn ich das Unterhemd mitzähl. Ohne Kleider würden Sie mich nicht wiedererkennen.« Eines Morgens ging ich gemeinsam mit Mr. Flood über den Markt. Wir blieben bei Mrs. Treppels Feuer stehen und er sagte: »Birdy, erzähl dem Mann doch mal, wie kalt es im Peck Slip wird.« »Das kann ich gern tun, mein Sohn«, sagte sie und hüpfte dabei auf und ab. »Wenn man mitten im Dezember zum Nordpol geht und sich bis auf die Unterhose auszieht und sich dann den größten Eisberg sucht und ein Loch bis in seine Mitte buddelt und in dieses Loch kriecht und sich unter jeden Arm eine Handvoll Schnee steckt und sich auf einen Eisblock setzt und ein Portion Eiscreme isst, selbst dann wär’s einem noch lang nicht so kalt wie im Peck Slip in einem Schafspelzmantel mit einem Feuerchen im Rinnstein.«


Eine andere Fischmarktgröße, mit der Mr. Flood gelegentlich den ersten Drink des Tages zu sich nimmt, ist Mr. Ah Got Um, ein temperamentvoller Neger aus Savannah, der einen Fischladen in der Lenox Avenue in Harlem betreibt und an zwei Tagen die Woche den Markt besucht, um seine Einkäufe zu tätigen. Wenn er guter Laune ist, singt er beim Gang durch die Stände:


Ah got pompanos!


Ah got buffaloes!


Ah got these!


Ah got those!


Ah got um!


Ah got um!


Ah’m the ah-got-um man!


Gegen elf stellt sich Mr. Flood im Sloppy Louie’s zum Mittagessen ein. Bei meinem letzten Besuch aßen wir zusammen zu Mittag. Er hatte sich an diesem Tag für einen Schwarzen Zackenbarsch entschieden, und während der Koch ihn zubereitete, setzten wir uns an einen der vorderen Tische und unterhielten uns. Ein junger Fischhändler in Army-Uniform, der auf Urlaub war und seine Kollegen auf dem Markt be­suchen wollte, kam herein. Mr. Flood hatte ihn ein Jahr lang nicht gesehen. »Hallo, Pop«, sagte der Soldat. »Lebst du immer noch?« Mr. Flood blieb der Mund offen stehen. »Also hör mal, Junge«, sagte er. »Das ist aber eine recht persönliche Frage.« Seine Laune verfinsterte sich und er sagte eine Weile nichts. Als der Koch seinen Fisch brachte, fing er jedoch wieder an zu reden. »Und wie ich noch lebe«, sagte er, klappte seinen Fisch auf und entfernte geschickt Flossen und Rückgrat samt Gräten. »Mir geht’s sogar so gut wie seit Jahren nicht. Ich hab gestern Abend vier Dutzend Austern gegessen und mich so gut gefühlt, dass ich beinah einen Austern­anfall bekommen hätte.« Einen Moment starrte er mich an. »Haben Sie schon mal jemand mit einem Austernanfall gesehen?«, fragte er.


»Nein, Sir«, sagte ich.


»Nun, mein Junge«, sagte Mr. Flood, »Leute, die nicht an Austern gewöhnt sind, verhalten sich manchmal merkwürdig, wenn sie ein paar Dutzend verdrückt haben. Ich hab schon viele solche Anfälle gesehen. Lassen Sie mich Ihnen von einem erzählen. Meine Tochter Louise lebt oben in Connecticut, in South Norwalk, und ich besuch sie einmal im Jahr in der ersten Septemberwoche, wenn die Austern wieder Saison haben. Ich hab dort in South Norwalk einen guten Freund, Mr. Drew Radel, Vorstand der Andrew Radel Oyster Company. Drew besitzt im Long Island Sound Austernbänke auf einer Fläche von 8900 Hektar und er züchtet die größten Austern in den Vereinigten Staaten, die Robbins Islands. Manche werden so groß wie Omeletts. Sein wichtigster Anlandeplatz liegt am Norwalk River, und wenn ich meine Tochter besuch, dann geh ich jeden Tag dorthin, und Drew und ich sitzen beisammen und reden und essen Austern.


Im September 1934 also, zur Zeit der Wirtschaftskrise, waren Drew und ich am Anleger und redeten, und da kamen drei Männer, die sagten, sie kämen aus Brooklyn. Sie nahmen ihre Hüte ab und baten um Arbeit als Deckhelfer auf einem von Drews Muschelbooten. Es waren armselige Kerle, blass und kümmerlich, mit hängenden Schultern, wie drei Pfaffen, kein Mark in den Knochen. Ich glaub, von denen hatte seit Monaten keiner mehr ein Lächeln im Gesicht. Drew hatte Mitleid und stellte sie an. Und bevor sie rausfuhren, um eine Ladung Austern einzuholen, nahm er den Kapitän beiseite und sagte ihm, sobald die ­Dredsche auf die Austernbänke runtergelassen war, sollte er die Brooklyner so viel Austern essen lassen, wie sie ­konnten. ›Die sollen sich mal richtig den Bauch vollschlagen‹, sagte Drew. ›Vielleicht weckt das ja ihre Lebensgeister.‹


Als das Boot das erste Mal zurückkam, bemerkte ich, dass die Brooklyner pfiffen. Als es das zweite Mal zu­rückkam, bemerkte ich, dass sie sangen. Spätnachmittags saßen Drew und ich in seinem Büro am Anleger, als das Boot zum dritten Mal zurückkam. Gleich nachdem es festgemacht hatte, hörte ich vom Anleger her ein Mordsgetöse und ging zum Fenster. Da waren die Kerle und lachten und brüllten und rangen miteinander und warfen sich gegenseitig die Hüte ins Wasser. Sie hauten gehörig auf den Putz. Schon von weitem konnte man sie lärmen hören. Einer nahm einen Blecheimer und fing an, mit einem Stock drauf rumzutrommeln – 
rumpa-ti-dum-rumpa-ti-dum-dum-dum. Im Stechschritt lief er den Anleger hoch, trommelte auf dem Eimer und jodelte dazu, eine richtige Ein-Mann-Kapelle. Ein anderer schlug einen Purzelbaum und machte am Rand des Anlegers einen Kopfstand. Er sprang auf die Füße, schüttelte sich und fing an, ein Lied zu singen, das hieß ›Tiptoe through the Tulips with Me‹. ›Na‹, sagte ich zu Drew, ›da haben die Austern ja ihre Wirkung getan.‹


Bald darauf platzten sie pfeifend in Drews Büro. Drew diktierte gerade einen wichtigen Brief und sah sie finster an. ›Männer‹, sagte er, ›was zum Teufel wollt ihr hier?‹ Einer von ihnen, der kleinste, kicherte und sagte: ›Wir wollen Sie vom Anleger schmeißen.‹ ›Im Moment‹, sagte Drew, ›hab ich zu viel zu tun. Ihr werdet mich entschuldigen müssen.‹ ›Na‹, sagte sein Freund, ›dann boxen wir Sie eben.‹ Drew sagte, er habe auch zum Boxen keine Zeit, und da sagte der eine: ›Wenn das so ist, gehn wir die Straße hoch und suchen uns ’nen anderen zum Boxen. Wär Ihnen das recht?‹ ›Ja, selbstverständlich‹, sagte Drew, ›macht nur.‹ Nach etwa einer halben Stunde klingelte das Telefon und ich ging dran. Es war der Wachtmeister von der Wache in South Norwalk und er sagte, dass er gerade zwei Männer eingesperrt hatte, die behaupteten, sie würden für die Radel Company arbeiten. ›Merkwürdig‹, sagte ich. ›Es sollten eigentlich drei sein.‹ Bleiben Sie kurz dran‹, sagte der Wachtmeister. ›Auf der Straße ist grad irgendein Aufstand.‹ Ich blieb dran und sofort kam der Sergeant zurück. ›Alles in Ordnung‹, sagte er. ›Der Dritte wird grad reingebracht, und dazu braucht es vier Streifenpolizisten, drei Kriminaler und zwei Zivilisten.‹«


Mr. Flood gackerte. »Drew und ich waren dermaßen stolz auf diese Jungs aus Brooklyn«, sagte er, »dass wir gleich rübergingen und ihre Kaution zahlten.«


(1944)

  • reportages
  • gastronomie
  • New York
  • la mort

Veuillez choisir votre langue
Français

Contenu selectionné
Français

Joseph Mitchell

Joseph Mitchell

 (1908 – 1996) est né dans une ferme de tabac et de coton en Caroline du Nord (États-Unis).
Après de brèves études, il attire l’attention d’un éditeur grâce à un reportage et s’installe définitivement à New York en 1929. Il relate alors pour le Morning World et le Herald Tribune, puis pour le New Yorker, où il passera cinquante- huit ans, les rues de la ville et la vie des hommes qui les peuplent. Après la publication de ses articles sous forme de recueils, il s’est vu récompensé par l’Académie des Arts et des Lettres en 1965 et par le prix de littérature de Caroline du Nord en 1984. Sa passion pour ceux qu’il refuse d’appeler les petites gens, son intérêt pour les marginaux et les oubliés du rêve américain, son style élégant et soigné ainsi que son humour caustique en font l’un des inventeurs d’un nouveau journalisme de terrain et lui ont valu le surnom de « parangon des reporters ».

Autres textes de Joseph Mitchell parus chez DIAPHANES
Joseph Mitchell: Old Mr. Flood

Joseph Mitchell

Old Mr. Flood
Geschichten von Fischessen, Whiskey, Tod und Wiedergeburt

Traduit par Sven Koch et Andrea Stumpf

relié, 160 pages

Der dreiundneunzigjährige Hugh G. Flood, pensionierter Abbruchunternehmer mit schottisch-irischen Wurzeln, gedenkt mit einer Diät aus Fisch und anderem Meeresgetier, Whiskey und der Luft des New Yorker Hafens 115 Jahre alt zu werden. Die drei Geschichten, die Joseph Mitchell diesem halb erdichteten, halb wahren Sonderling gewidmet hat, sind legendär: In der Redaktion des »New Yorker« musste jeder Neuankömmling sie durcharbeiten. Entstanden sind sie Mitte der 1940er Jahre, und in diesem kürzesten Buch von Joseph Mitchell ist im Kleinen alles enthalten, was seine Reportagen und Porträts allgemein auszeichnet: unvergessliche Charaktere, liebevoll, ungeheuer lebendig und mit Galgenhumor beschrieben und zugleich von einer Intensität, die ihresgleichen sucht. Mit »Old Mr. Flood« hat Mitchell dem versunkenen Fulton Fish Market und seinen Hafenarbeitern, Köchen und Fischhändlern ein Denkmal gesetzt. Ein gefundenes Fressen für New-York-Liebhaber, Flaneure und alle Esslustigen.