Der Schrecken ist das Zeichen des Phantasmas

Pascal Quignard

Die Mysterienvilla

in: Sexualität und Schrecken, p. 271 – 298

Man muss sich ihrem Geheimnis so weit überlassen, dass der Blick davon nicht behindert wird. Allein der Schlaf enthüllt es dem Träumer in Form von Traumbildern, doch nur ihm allein. Seinen Traum teilt man mit niemandem. Man teilt ihn nicht einmal mit der Sprache. Das Schamgefühl betrifft das Geschlecht als Geheimnis. Dieses Geheimnis ist der Sprache nicht zugänglich, nicht nur, weil es bereits Jahrtausende vor der Sprache bestand, sondern vor allem, weil es an ihrem Ursprung ist, und zwar jedes Mal. Es ist der Sprache für immer entzogen. Wie es dem sprechenden Menschen für immer entzogen ist, weil er die vulva für immer verlassen hat. Weil er nicht mehr infans, sondern maturus, adultus ist. Weil er Sprache geworden ist. Darin liegt zunächst der Grund, warum dieses Geheimnis, „das nicht spricht“ (infans), so selten seine Sprache durcheinanderbringt. Und warum das „Bild“ dieses Geheimnisses den Menschen so sehr verwirrt. So sehr, dass er träumt. Deshalb lässt ihn der Anblick dieser Szene in Schweigen erstarren und hüllt ihn in dunkle Nacht.


Plutarch zeigt Apollonios, der Thespesion im Gespräch erklärt, dass man durch Nachahmung nur darstelle, was man sieht, während die Phantasie auch das Nicht-Sichtbare hervorbringe. Dann sagt Apollonios plötzlich: „Die mimesis entfernt sich oft durch ein Erschrecken von ihrem Ziel, die phantasia dagegen niemals.“ (Flavius Philostratus, Das Leben des Apollonius, VI, 19).


Cicero schrieb, mehr als alles andere auf der Welt fürchte er die Stille, die im Senat eintritt, wenn jeder darauf wartet, dass einer das Wort ergreift.


Wenn man die Villa der Weinbauern südlich von Pompeji betritt, kommt zuerst die Stille, dann der Schrecken. Platon sagte, der Schrecken sei das erste Geschenk der Schönheit. Ich füge hinzu, dass das zweite Geschenk der Schönheit vielleicht die Feindseligkeit gegenüber der Sprache ist (das Verstummen). Auf dem stummen Fresko liest ein Kind. Man hört nicht einmal, wie die Schriftrolle abgerollt wird, die es in seinen Händen hält.


Ich glaube nicht, dass die unerhörte Schamhaftigkeit dieses Fresko je bemerkt worden ist. In gewisser Hinsicht könnte man dieses Fresko das Schamgefühl nennen. Ganz links sitzt eine Matro­ne in ihrem Sessel. Dazu das Kind, das in der Stille des kleinen Raums liest. In der Mitte ein verschleiertes Objekt. Die drei Wände zeigen dem menschlichen Blick das Mysterium der Scham, die Frauen, Kinder, Männer, Dämonen und Götter überkommt.


In der dionysischen Orgie, von den Römern Bacchanal ge­nannt, erschien die Scham den Römern als eine Gottlosigkeit. Die bacchatio bestand darin, einen Mann erst zu kastrieren,...

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Pascal Quignard: Sexualität und Schrecken

Pascal Quignard

Sexualität und Schrecken

Traduit par Holger Fock et Sabine Müller

relié, 320 pages

PDF, 320 pages

Einen unbegreiflichen Umschwung gilt es zu verstehen: von der fröhlichen Erotik des helllichten Tages, die im alten Griechenland gefeiert wurde, zur Verbannung des sexuellen Akts ins Dunkle, Angsterfüllte, Verborgene bei den Römern. Wo ließe sich dem besser nachspüren als in Pompeji – dort, wo der Schrecken von Erdstößen und glühender Lava uns im Augenblick des Todes das faszinierende Bild des Zusammenstoßes dieser beiden Zivilisationen erhalten hat?


Ausgehend von den verstörenden Fresken in Pompeji erzählt Pascal Quignard eine Geschichte über den Tod, die antike Malerei und den abendländischen Sex, die zu einer ganz neuen Sichtweise auf die römische Welt gelangt: als Ursprung des Ekels, des Grauens, der Melancholie und des Puritanismus.